Freundschaftsverein Tczew-Witten e.V.


Wir dokumentieren hier die Initiative einiger Wittener Bürger,
die im Februar 2004 in einem Offenen Brief an Bundespräsident Dr. Johannes Rau
Stellung zu der Diskussion um die Vertreibungen während des Zweiten Weltkrieges bezogen.




Erinnern - Mahnen - Lernen. Für ein Europa der gewaltfreien Konfliktlösungen

Europäisches Forschungs- und Dokumentationszentrum "Vertreibungen"

Erinnerung an die Vertreibung

Die Debatte um das Schicksal der Vertriebenen im 2. Weltkrieg hat erneut an Schärfe und Intensität
zugenommen. Ein großes Zentrum gegen Vertreibung soll gebaut werden, in dem dieser
bisher nicht ausreichend reflektierte und akzeptierte Teil der Geschichte aufbereitet werden soll.
Wir möchten uns durchaus für die Errichtung einer solchen Stätte des Gedenkens und des
Trauerns um diese vorwiegend zivilen Opfer des Krieges aussprechen. Daß dabei an alle
Opfer von Vertreibung gedacht werden muß und nicht nur an die deutschen, ist eine Voraussetzung
für die Glaubhaftigkeit dieses Anliegens. Nicht nur die im 2. Weltkrieg geplante Beseitigung
Polens und Tschechiens, sondern auch die ausgeführte Vernichtung von ca. einem Fünftel
der polnischen Bevölkerung, vorwiegend ausserhalb der Kriegshandlungen, ist der historische
Hintergrund für das spätere Vertreibungsgeschehen gegenüber den Deutschen.
Die Beschäftigung mit dem Thema der Vertreibung ist keineswegs neu. Die öffentliche Akzeptanz
der Vertreibung und ihrer Hintergründe steht jedoch noch aus. Die Politik in Ost und West ist
diesem Problem aus unterschiedlichen Gründen ausgewichen. Doch in den betroffenen Familien
ist der Schmerz über die erlittene Gewalt auch über Generationen hinweg nicht vergessen. Den
leidvollen Erfahrungen wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Daraus ergab sich, und ergibt
sich noch heute, die Möglichkeit, dieses Thema einseitig zu nutzen. Der Vorschlag des Bundes
der Vertriebenen, das "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin anzusiedeln, das vorrangig den
deutschen Vertriebenen gewidmet wäre, ist hierfür ein Beispiel.
Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau haben zur Debatte über dieses wichtige Thema aufgefordert.
Wir greifen diese Anregung auf und möchten drei Punkte herausstellen:

1. Das "Zentrum gegen Vertreibungen" sollte ein europäisches Zentrum werden, in dem jede Vertreibung im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg dokumentiert und aufgearbeitet wird.

2. Es ist absolut unzulässig, nur die Vertreibungen als solche darzustellen. Ebenso ausführlich müssen die Umstände, Absichten sowie ethische und juristische Normen untersucht und dargelegt werden, die zu Vertreibungen geführt haben. Nur in dem gesamten geschichtlichen Kontext werden die Schlußfolgerungen deutlich, die zu ziehen sind: die Zukunft muß der Gemeinsamkeit, der Verständigung und der zivilen Konfliktlösung gehören.

3. Das Zentrum sollte nicht in Berlin errichtet werden. Eine Stadt mit deutsch/polnischer Vergangenheit wie Wroclaw / Breslau ist geeignet, die Ernsthaftigkeit des Bemühens um eine Aufarbeitung im europäischen Kontext glaubwürdiger zu machen. Mit dem Standort Wroclaw / Breslau wäre auch eine räumliche Nähe zu Tschechien gegeben.

Die Arbeiten sollten bald möglichst aus der nationalen Enge heraus auf die europäische Ebene
gehoben und durch ein internationales Kuratorium geleitet, begonnen werden.
Als den nächsten wichtigen Schritt möchten wir die Einrichtung eines Forums vorschlagen, das
die breite öffentliche Diskussion der angesprochenen Fragen ermöglicht. Nur durch eine so angelegte
zivilgesellschaftliche Debatte wird die notwendige Aufarbeitung von Geschichte gelingen.

Kontakt:          Peter Liedtke               Postfach 1824               58408 Witten  




Aus dem Schreiben des Bundespräsidialamtes:


"[...]

Der Bundespräsident wünscht sich möglichst viele Gesprächskreise wie den Ihren, die sich des Themas Flucht und Vertreibung annehmen und für einen europäischen Dialog plädieren. Es mehren sich die Anzeichen, dass dieser Dialog nun auch in Gang kommt. Dabei zeigt sich übrigens, wie viel gute lokale und regionale grenzüberschreitende Dialogpartnerschaften es zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn bereits gibt.


In der Annahme Ihres Interesses füge ich den Text der Rede bei, die der Bundespräsident beim jüngsten "Tag der Heimat" des Bundes der Vertriebenen gehalten hat. Haben Sie nochmals Dank für Ihre Zeilen Briefe wie der Ihre bestärken den Bundespräsidenten in seinem Engagement für die europäische Dokumentation und Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der europäischen Geschichte."

[...]





Auszüge aus der Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am Sonntag, den 7. 9. 2003


[...]

Seit einigen Jahren haben Historiker, Soziologen und Psychologen das Thema Flucht und Vertreibung wiederentdeckt. Bisher verschlossene Archive stehen nun offen. Manche Fragen sind noch wenig oder gar nicht wissenschaftlich untersucht, zum Beispiel das Schicksal der Vertriebenen in der SBZ und in der DDR und die Langzeitfolgen der Vertreibung für die Erlebnisgeneration und für ihre Kinder und Enkel. Die größte Forschungslücke, sagen Kenner der Materie, gibt es bei vergleichenden Untersuchungen über Umsiedlungen und Vertreibungen in ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Viel zu wenig erforscht ist auch der enge Zusammenhang zwischen Vertreibungspolitik und Holocaust.

Mindestens ebenso positiv wie das neuerwachte Interesse der Wissenschaft sind das Interesse und die große Anteilnahme der Bürgerinnen und Bürger an diesem Kapitel unserer Geschichte. In den vergangenen Jahren haben wir einen erfreulichen Wandel erlebt: Zeitzeugen über die Vertreibung, zeitgeschichtliche Darstellungen, literarische Gestaltungen des Themas wie die Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass und auch Fernseh-Dokumentationen finden ein großes und interessiertes Publikum. Die Menschen reagieren betroffen und mit Trauer auf die geschilderten Leiden, und manche, vor allem die Jüngeren, erkennen überhaupt zum ersten Mal, wie schwer der 2. Weltkrieg auch die Deutschen getroffen hat.

Für diese neue Anteilnahme gibt es gewiss mancherlei Gründe. Besonders wichtig erscheinen mir zwei. Zuallererst: Spätestens seit 1990 ist die Erinnerung an die Vertreibung nicht mehr mit dem Ost-West-Konflikt und mit strittigen Fragen der deutschen Außenpolitik belastet.

Die Deutschen - auch die große Mehrheit der Vertriebenen wollten den Ausgleich mit Polen und Tschechien und mit den anderen mittel- und osteuropäischen Völkern, und wir haben diesen Ausgleich erreicht. Deutschland und seine Nachbarn sind sich darüber einig, dass sie ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten und nicht mit politischen und rechtlichen Fragen belasten wollen, die aus der Vergangenheit herrühren.

Wenn wir das ernst meinen und wenn wir uns im Alltag daran halten, dann steht die Beschäftigung mit dem Unrecht der Vertreibung grundsätzlich nicht mehr unter dem Verdacht, es gehe wechselseitig um alte Vorwürfe und um gegenseitiges Aufrechnen. Das spüren die Menschen und darum öffnen sie sich für das Thema.

Ich sehe noch einen weiteren wichtigen Grund für die verstärkte Zuwendung der Deutschen zu diesem Abschnitt unserer deutschen und europäischen Geschichte: Die meisten Menschen, die die Vertreibung bewusst erlebt haben, sind heute im Rentenalter. Sie waren eine unauffällige, eine "stille" Generation, die anpackte und in der DDR und in der Bundesrepublik mithalf, die Karre aus dem Dreck zu ziehen - und zwar die meisten durchaus in dem Bewusstsein: "Das haben wir uns alle gemeinsam eingebrockt, das müssen wir nun gemeinsam auslöffeln." Diese Generation geht nun den eigenen Spuren noch einmal nach und erzählt ihr Schicksal auch den Enkeln. Großeltern und Enkel sind ja bekanntlich natürliche Verbündete.

Gerade in der Enkelgeneration haben freilich Viele fundierte Kenntnisse über die Vertreibung und über deren Vorgeschichte auch dringend nötig. Der Stand der historischen Allgemeinbildung lässt ohnedies einiges zu wünschen übrig. Noch schlechter als ohnehin schon ist es aber um die Kenntnisse über den früheren deutschen Osten und über die Vertreibung bestellt.

Natürlich gibt es erfreuliche Ausnahmen. Zum Beispiel habe ich im vergangenen Herbst beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten das Thema "Weggehen - Ankommen. Migration in der Geschichte" als Aufgabe gestellt. Jetzt liegen die Wettbewerbsbeiträge vor. Viele berichten von der Flucht und Vertreibung der Deutschen, und ich finde es eindrucksvoll, wie einfühlsam und sachkundig die jungen Leute sich mit diesem Thema beschäftigt haben.

Aber im Allgemeinen trifft leider zu, was der Althistoriker Alfred Heuß schon 1984 beklagt hat: Die jüngeren Deutschen wissen nur noch wenig über den früheren deutschen Osten und über die Katastrophe, die zu seinem Verlust geführt hat. Dass Königsberg und Breslau deutsche Großstädte waren wie Köln und München, ist heute Vielen unbekannt, und entsprechende Ungewissheit herrscht dann natürlich auch darüber, in welchem Land eigentlich Menschen wie Immanuel Kant oder Gerhart Hauptmann geboren wurden, lebten und arbeiteten. Wer so wenig über den deutschen Osten weiß, so kritisierte Heuß mit Recht, der begreift gar nicht, welchen Substanzverlust die Deutschen durch den 2. Weltkrieg erlitten haben und wie "sich hierin Hitlers Verbrechensprinzipien gegen die Deutschen selbst kehrten."

Auf diese Erkenntnis kommt es doch entscheidend an! Im Grunde lässt sich die ganze deutsche Politik ab 1933 überhaupt nur aus dem Prinzip der nationalistischen und rassistischen Vertreibung verstehen. Diesem Ziel dienten die Verfolgung und Vertreibung der Juden schon zu Friedenszeiten und das Münchner Abkommen, dem dienten die Umsiedlung der Südtiroler und dann das Hereinholen vieler anderer deutscher Minderheiten "heim ins Reich", wie das hieß.

Überall im deutschen Machtbereich sind ethnische Minderheiten und ganze Völker verfolgt, versklavt und vertrieben worden, sobald man sie in die Gewalt bekam: So wurden aus dem westlichen Polen gleich nach der Besetzung binnen Monaten weit mehr als eine Million polnische Bürger deportiert, um Platz für Deutsche zu schaffen. Und das sollte ja nur der Anfang sein: Die Pläne für die Vertreibung von Millionen Polen und Russen lagen bereit. Im "Generalplan Ost" und im "Generalsiedlungsplan Ost" kalkulierte die SS allein mit mehr als dreißig Millionen russischen Opfern dieser Landnahme. In der Vernichtung der europäischen Juden erreichte diese rassistische und ethnokratische Politik ihre schrecklichste Form. Götz Aly hat Recht: Der Holocaust gehört "mitten hinein" in die historische Konstellation, der am Ende auch die deutschen Vertriebenen zum Opfer fielen.

Wie untrennbar bis zuletzt die deutschen Verbrechen und die Vertreibung der Deutschen ineinander verschlungen waren, das haben viele Vertriebene mit eigenen Augen erlebt. Ein Schlesier erinnert sich: "Eine böse Vorahnung ergriff mich, als der Elendszug der KZ-Häftlinge des Lagers Auschwitz Anfang Januar 1945 durch unser Dorf zog. Ein schreckliches Erlebnis. Sie waren alle, obwohl es bitterkalt war, nur in der dünnen Häftlingsbekleidung, mit Holzpantinen ohne Strümpfe bekleidet. (...) Als ich am nächsten Morgen zur Schule ging, lagen Dutzende von erschossenen Häftlingen am Straßenrand."

Auch in der Nacht, als die "Wilhelm Gustloff" sank und in Pillau ungezählte verzweifelte Flüchtlinge auf den Transport über die Ostsee warteten, wurden nahebei am Strand noch viele Häftlinge aus dem KZ Stutthoff erschossen.

Gewiss, Umsiedlungen und Vertreibungen hat es schon vor 1933 gegeben, und schon damals lag kein Segen darauf. Erst mit den Nationalsozialisten schlug diese Praxis europaweit in gesetzlose Brutalität um. Der Historiker Hans Lemberg hat es auf den Begriff gebracht: "So ist durch Hitler die Hemmschwelle hinsichtlich dessen, was man mit Menschen und Menschengruppen meinte zu tun können, (...) ebenso gesenkt worden, wie das Grenzen-Verschieben durch ihn wieder in Schwung gekommen ist."

Diese Erkenntnis zeichnet niemanden von der Verantwortung für eigenes Handeln frei - nicht die, die Hitler die Hand zum Münchener Abkommen reichten und nicht die Konferenzteilnehmer von Teheran, Jalta und Potsdam; nicht die, die in Mittel- und Osteuropa erst mit den Deutschen gemeinsam die Juden entrechteten, danach die Deutschen, und auch nicht jene, die schon im Exil jahrelang die Vertreibung planten. Hitlers verbrecherische Politik entlastet niemanden, der furchtbares Unrecht mit furchtbarem Unrecht beantwortet hat.

Die gesamteuropäische Katastrophe kann aber nur in ihrem Gesamtzusammenhang wirklich verstanden werden, und nur das kann aufklärend wirken. Solche Aufklärung wünsche ich mir für die heutigen und für die künftigen Generationen in Deutschland und überall in Europa. Dafür brauchen wir einen europäischen Dialog, und der wird von allen Beteiligten ungeschminkte Selbsterkenntnis verlangen.

[...]

Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom vergangenen Juli enthält wichtige Kriterien. Wir brauchen einen Ansatz, der einen möglichst gesamteuropäischen Dialog über die Vertreibungen möglich macht, die im vergangenen Jahrhundert auf unserem Kontinent stattgefunden haben. Wir müssen in Europa Wege finden, um die europäische Öffentlichkeit über diese Vertreibungen in ihrem historischen Zusammenhang und mit ihren ideologischen Hintergründen zu informieren. Wir brauchen die dauerhafte Erinnerung an das individuelle Leid der Opfer und an das schwere Schicksal ganzer Volksgruppen. Es muss gelingen, die fortdauernden psychischen, mentalen und sozialen Wirkungen von Flucht und Vertreibung auf die Opfer und auf die Täter, auf das Zusammenleben in den Gesellschaften und auf die Beziehungen der europäischen Völker zueinander zu erforschen.

All das muss im Geist der Zusammenarbeit und der Versöhnung und mit Blick auf unsere gemeinsame Zukunft in Europa geschehen. Alle sollten dazu eingeladen sein, niemand soll dagegen ein Veto einlegen können, und niemand soll glauben, er könne totschweigen, was geschehen ist. Für gegenseitige Schuldzuweisungen aber, für das Hin und Her von Aufrechnung und Gegenaufrechnung und für die Anmeldung gegenseitiger materieller Ansprüche darf es keinen Raum mehr geben, denn das liegt hinter uns, und wer solches Verhalten wiederbeleben will, der führt uns wieder in den Teufelskreis.

[...]





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