Das Jahresende ist immer wieder eine Zeit der Rückschau auf das Vergangene aber auch eine Zeit des hoffnungsvollen Ausblicks.
Wir wollen diese Zeit nutzen und uns in Ruhe mit dem Thema auseinandersetzen, das uns bewegt: dem Verhältnis von Deutschen und Polen zueinander.
Sowohl in Polen als auch in Deutschland haben sich in den letzten Monaten neue Regierungen gebildet. Im Mittelpunkt des Interesses steht ein Thema, das schon in den letzten Jahren die Beziehung der Nachbarländer schwer belastet hat und zu dem wir nicht schweigen werden.
Einige Politiker in Deutschland hoffen jetzt auf die baldige Durchsetzung ihrer Träume von einem "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin.
Warum regt sich in Deutschland und Polen eine breite Front der Ablehnung gegen diesen Plan?
Schon seit Beginn seiner Herrschaft hatte das nationalsozialistische Deutschland Vertreibung im großen Stil betrieben. In Deutschland wurden zuerst die ärgsten Gegner aus dem Parlament vertrieben, damit der Schein des Legalen bei der Sicherung der Macht gewahrt werden konnte. Bürger mit oppositionellen Meinungen und Aktivitäten wurden hinter Stacheldraht zusammen getrieben. Die Bürger des deutschen Staates wurden klassifiziert und die als abweichend Betrachteten aussortiert. Bürger, als "Juden" stigmatisiert, wurden aus Ihren Berufen, ihren Wohnungen, ihren Städten und aus dem Land vertrieben oder ermordet. Die Liste der deutschen Opfergruppen, die ins Exil getrieben, verfolgt und ermordet wurden, ist lang…
Was spräche dagegen und wer spräche dagegen, wenn diesen Opfern des Nationalsozialismus im ehemaligen Zentrum der nationalsozialistischen Macht, in Berlin, ein Haus des Gedenkens und des Mahnens errichtet würde?
Aber niemand hat bisher den Eindruck gewonnen, dass es der Vorsitzenden des "Bundes der Vertriebenen" um ein solches Projekt geht. Nein, es geht ihr vorgeblich um die Millionen Deutschen, die 1944 / 45 ihre Heimat verlassen haben und um das Leid dieser Menschen.
Diese Forderung
"Ein 'Zentrum gegen Vertreibungen' in Berlin"
stößt in Polen berechtigterweise auf großes Befremden:
Was bleibt von der geschichtlichen Wahrheit übrig, wenn über "Flucht und Vertreibung" der Deutschen gesprochen werden soll, aber nicht über die Flucht, Vertreibung, Versklavung und Ermordung von Millionen polnischen Staatsbürgern (und Bürgern anderer okkupierter Staaten) in der Zeit von 1939 bis 1945?
Als im Jahr 1985 der damalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung, darauf hinwies:
sprach er aus, was einer Mehrheit der Deutschen schon klar geworden war, was aber einige bis heute nicht wahr haben wollen: Terror, Krieg und Vernichtung gingen von Deutschland aus und die Deutschen blieben von den Folgen nicht verschont. Die Geschichte lässt sich aber nur verstehen, wenn wir die Ereignisse in ihren Zusammenhängen betrachten.
Genau diese Betrachtung der geschichtlichen Zusammenhänge fehlt bei der Forderung nach einem "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin.
Ein Blick in die Veröffentlichungen des "Bundes der Vertriebenen" zeigt für die Zeit vor 1945 eine erschreckende Leere, als begänne die Geschichte der Deutschen erst mit dem Treck der Flüchtlinge 1944 / 45 nach Westen.
Um eine Auseinandersetzung mit diesem Thema zu ermöglichen, haben wir hier einige literarische Texte zusammengetragen, die sich aus Sicht der 1940'er Jahre mit dem Thema Krieg, Vertreibung, Verantwortung und Schuld beschäftigen.
Wir müssen wohl davon ausgehen, dass die Auswahl der Autoren - kritische Geister, Juden, Kommunisten und Kriegsgegner - bei einigen Lesern auf Ablehnung stoßen wird. Aber an dieser Art der Ablehnung würde sich vermutlich auch nichts ändern, wenn der Autor gläubiger Katholik oder ein genau beobachtender und berichtender deutscher Soldat wäre. Die Ablehnung resultiert wohl daraus, dass diese Autoren mit ihrem Zeugnis den Finger in die immer noch nicht verheilende Wunde der beschwiegenen Schuld legen, der Frage der Verstrickung und Täterschaft der Deutschen. Aber wie anders soll diese Wunde heilen als dadurch, dass sie besprochen wird.
Ein Umgang mit der Geschichte, wie er sich beim "Bund der Vertriebenen" zeigt, welcher durch Auslassungen, wie z. B. die durch Nazi-Deutschland vorgenommenen Vertreibungen oder Relativierungen (z. B. durch Thematisierung aller Vertreibungen aller Zeiten) die konkrete Frage der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg ausblendet, ist nicht akzeptabel. Schon allein aus diesem Grunde ist das Vorhaben eines "Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin" abzulehnen.
Hierzu gäbe es noch einige Anmerkungen zu mache, wir wollen aber jetzt die Zeitzeugen zu Wort kommen lassen.
"Schauen wir [...], so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge." *
Bertold Brecht
In Polen, im Jahr Neunundreißig
War eine blutige Schlacht
Die hatte viele Städte und Dörfer
Zu einer Wildnis gemacht.
Die Schwester verlor den Bruder
Die Frau den Mann im Heer;
Zwischen Feuer und Trümmerstätte
Fand das Kind die Eltern nicht mehr.
Aus Polen ist nichts mehr gekommen
Nicht Brief noch Zeitungsbericht.
Doch in den östlichen Ländern
Läuft eine seltsame Geschicht.
Schnee fiel, als man sich's erzählte
In einer östlichen Stadt
Von einem Kinderkreuzzug
Der in Polen begonnen hat.
Da trippelten Kinder hungernd
In Trüpplein hinab die Chausseen
Und nahmen mit sich andere, die
In zerschossenen Dörfern stehn.
Sie wollten entrinnen den Schlachten
Dem ganzen Nachtmahr
Und eines Tages kommen
In ein Land, wo Frieden war.
Da war ein kleiner Führer
Das hat sie aufgericht'.
Er hatte eine große Sorge:
Den Weg, den wußte er nicht.
Eine Elfjährige schleppte
Ein Kind von vier Jahr
Hatte alles für eine Mutter
Nur nicht ein Land, wo Frieden war.
Ein kleiner Jude marschierte im Trupp
Mit einem samtenen Kragen
Der war das weißeste Brot gewohnt
Und hat sich gut geschlagen.
Und ging ein dünner Grauer mit
Hielt sich abseits in der Landschaft.
Er trug an einer schrecklichen Schuld:
Er kam aus einer Nazigesandtschaft.
Und da war ein Hund
Gefangen zum Schlachten
Mitgenommen als Esser
Weils sie's nicht übers Herz brachten.
Da war eine Schule
Und ein kleiner Lehrer für Kalligraphie.
Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand
Lernte schreiben bis zu Frie. . .
Da war auch eine Liebe.
Sie war zwölf, er war fünfzehn Jahr.
In einem zerschossenen Hofe
Kämmte sie ihm sein Haar.
Die Liebe konnte nicht bestehen
Es kam zu große Kält:
Wie sollen die Bäumchen blühen
Wenn so viel Schnee drauf fällt?
Da war auch ein Begräbnis
Eines Jungen mit samtenen Kragen
Der wurde von zwei Deutschen
Und zwei Polen zu Grab getragen.
Protestant, Katholik und Nazi war da
Ihn der Erde einzuhändigen.
Und zum Schluß sprach ein kleiner Kommunist
Von der Zukunft der Lebendigen.
So gab es Glaube und Hoffnung
Nur nicht Fleisch und Brot.
Und keiner schelt sie mir, wenn sie was stahln
Der ihnen nicht Obdach bot.
Und keiner schelt mir den armen Mann
Der sie nicht zu Tische lud:
Für ein halbes Hundert, da braucht es
Mehl, nicht Opfermut.
Sie zogen vornehmlich nach Süden.
Süden ist, wo die Sonn
Mittags um zwölf steht
Gradaus davon.
Sie fanden zwar einen Soldaten
Verwundet im Tannengries
Sie pflegten ihn sieben Tage
Damit er den Weg ihnen wies.
Er sagte ihnen: Nach Bilgoray!
Muß stark gefiebert haben
Und starb ihnen weg am achten Tag.
Sie haben auch ihn begraben.
Und da gab es ja Wegweiser
Wenn auch vom Schnee verweht
Nur zeigten sie nicht mehr die Richtung an
Sondern waren umgedreht.
Das war nicht etwa ein schlechter Spaß
Sondern aus militärischen Gründen.
Und als sie suchten nach Bilgoray
Konnten sie es nicht finden.
Sie standen um ihren Führer.
Der sah in die Schneeluft hinein
Und deutete mit der kleinen Hand
Und sagte: Es muß dort sein.
Einmal, nachts, sahen sie ein Feuer
Da gingen sie nicht hin.
Einmal rollten drei Tanks vorbei
Da waren Menschen drin.
Einmal kamen sie an eine Stadt
Da machten sie einen Bogen.
Bis sie daran vorüber waren
Sind sie nur nachts weitergezogen.
Wo einst das südöstliche Polen war
Bei starkem Schneewehn
Hat man die fünfundfünfzig
Zuletzt gesehn.
Wenn ich die Augen schließe
Seh ich sie wandern
Von einem zerschossenen Bauerngehöft
Zu einem zerschossenen andern.
Über ihnen, in den Wolken oben
Seh ich andre Züge, neue, große!
Mühsam wandernd gegen kalte Winde
Heimatlose, Richtungslose
Suchend nach dem Land mit Frieden
Ohne Donner, ohne Feuer
Nicht wie das, aus dem sie kamen
Und der Zug wird ungeheuer.
Und er scheint mir durch den Dämmer
Bald schon gar nicht mehr derselbe:
Andere Gesichtlein seh ich
Spanische, französische, gelbe!
In Polen, in jenem Januar
Wurde ein Hund gefangen
Der hatte um seinen mageren Hals
Eine Tafel aus Pappe hangen.
Darauf stand: Bitte um Hilfe!
Wir wissen den Weg nicht mehr.
Wir sind fünfundfünfzig
Der Hund führt euch her.
Wenn ihr nicht kommen könnt
Jagt ihn weg
Schießt nicht auf ihn
Nur er weiß den Fleck.
Die Schrift war eine Kinderhand.
Bauern haben sie gelesen.
Seitdem sind eineinhalb Jahre um.
Der Hund ist verhungert gewesen.
1941
Lied einer deutschen Mutter
Mein Sohn, ich hab dir die Stiefel
Und dies braune Hemd geschenkt:
Hätt ich gewußt, was ich heute weiß
Hätt ich lieber mich aufgehängt.
Mein Sohn, als ich deine Hand sah
Erhoben zum Hitlergruß
Wußte ich nicht, daß dem, der ihn grüßet
Die Hand verdorren muß.
Mein Sohn, ich hörte dich reden
Von einem Heldengeschlecht.
Wußte nicht, ahnte nicht, sah nicht:
Du warst ihr Folterknecht.
Mein Sohn, und ich sah dich marschieren
Hinter dem Hitler her
Und wußte nicht, daß, wer mit ihm auszieht
Zurück kehrt er nimmermehr.
Mein Sohn, du sagtest mir, Deutschland
Wird nicht mehr zu kennen sein.
Wußte nicht, es würd werden
Zu Asche und blutigem Stein.
Sah das braune Hemd dich tragen
Habe mich nicht dagegen gestemmt.
Denn ich wußte nicht, was ich heut weiß:
Es war dein Totenhemd.
1943
Max Zimmering
Wir zogen dahin, kreuz und quer durch die Welt,
Und wir ritten ein stählernes Roß.
Und wir waren aufs Siegen eingestellt,
Und wir sagten: "Wir nehmen, was uns gefällt",
Und uns hielten nicht Riegel und Schloß.
So fraßen wir Böhmen und Polen hinein,
Und wer fiel, der war tot und ein Held.
Und hörten wir jemand "Mörder!" schrein,
Dann schlugen wir ihm den Schädel ein -
Der hatte dann ausgebellt.
Nachdem nun der Tscheche geschlagen war,
Und als auch der Pole schwieg,
Da kochten wir erst unsre Beute gar
Und ruhten uns aus bis zum nächsten Jahr,
Bis ein neuer Spaziergang stieg.
Und wir schluckten Norwegen und Dänemark,
Und wir schluckten Butter und Speck,
Und wir tranken die Milch, und wir fraßen den Quark,
Und wir wurden wie Schweine gar fett und stark,
Kaum wälzten wir uns vom Fleck.
Schließlich zogen wir weiter gen Niederland,
Ein Ländchen so klein - aber reich.
Und auch hier, da gab's nicht viel Widerstand,
Und wo sich ein fülliges Mieder fand,
War unser die Frau sogleich.
Kaum war dann das Frühstück in Holland verzehrt
Und die Taschen gefüllt und gestopft
Mit dem, was daheim unser Weibchen begehrt,
Da hoben wir rülpsend und unbeschwert
An das belgische Tor geklopft.
Und wir zogen durch Belgien wie dazumal,
Und es glich einem Wiedersehn,
Und die Frauen spuckten durch Lippen schmal,
Und man schoß von den Dächern - uns war es egal,
Denn was konnte uns noch geschehn?
Von Belgien ging es gleich bis Paris;
Und es ging ganz verdächtig leicht.
Für Paris keinen Schuß man uns feuern ließ,
Denn es wurde, wie es beim Volke hieß,
Als Freundschaftsbeweis gereicht.
Wer aber Paris und Marseille sieht,
Den zieht's nach dem Orient.
Und so kam's, daß ein Heer auch durch Serbien zieht,
Und es zog uns, weil alles so gut geriet,
Hin, wo griechische Sonne brennt.
Als wir standen auf der Akropolis,
Und wir blickten hinab auf Athen,
Und wir war'n uns des ewigen Frühlings gewiß,
Da schnarrte der Hauptmann durch sein Gebiß:
Was kann uns jetzt noch geschehn?
Ein Sprung nur - und Kreta war unser Besitz,
Und man zog mit den Söhnen vom Po
Längs der Küste durch Lybische Wüste und Hitz,
Und das Glück war bei uns, und der Krieg war ein Witz,
Morgen lädt man zu Tisch Pharao.
Jetzt fehlte uns nur noch das Britische Reich
Und der Ritt in das östliche Land.
Die Briten, die kriegt man mit Bomben weich,
Und die Russen - "Sieben auf einen Streich!"
Doch - dann hat das Glück sich gewandt.
Und jetzt kotzen wir Blut und die Länder aus,
Und wir lassen die Beute stehn,
Und es jagt uns der Russ' und die Furcht und die Laus,
Und es schießt aus jedem zerschossenen Haus,
Und wir können nicht schnell genug gehn.
O Gott, du im Himmel, erbarme dich doch,
Sei uns nah, denn dein Sohn ist in Not.
Unser Führer, der log, und sein Plan hat ein Loch.
O Satan, da unten, erhörst du uns noch? -
Hilf und schlage den Führer uns tot!
1943
Bruno Hampel
Du bist mein Bruder. Du bist mein älterer Bruder. Gut. Du sollst aufpassen auf Mutter und mich, hat Vater damals zu dir gesagt, als er starb. Gut. Die Hühner müssen was fressen, wenn sie legen sollen. Auch gut. Ich soll Mutter eine Stütze sein. Ich soll ihr keinen Kummer machen. Du bist dreizehn Jahre älter als ich. Du kennst die Welt und die Menschen besser als ich, noch dazu als Eisenbahnschaffner mit fast zwanzigjähriger ununterbrochener Dienstzeit. Ich soll auf dich hören. Gut, alles sehr schön und gut. Du hast recht, verstehst du? Ich sage, du hast vollkommen recht. Vollkommen recht hast du. In allem.
Aber ich sage dir noch was anderes: Und wenn du in allen Dingen tausendmal recht hast, das mit dem Mais ist meine Sache. Das mit dem Mais geht dich einen Dreck an. Das mit dem Mais wirst du nie begreifen. Und wenn du noch zehntausend Jahre lang den Leuten in den Zügen mit dem Kopierstift einen Strich auf die Fahrkarte machst und Füsogomien - oder wie das Zeugs heißt - studierst. Nie wirst du es begreifen!
Du kannst dich ja meinetwegen pensionieren lassen und mit Mutter zusammen eine Maisplantage eröffnen. Auf deinem Balkon kannst du Mais pflanzen. Oder rechts und links von deinen verdammten Eisenbahnschienen, überall, wo du lang fährst. Was geht es mich an. Verstehst du? Was geht es mich an!
Aber mir laßt gefälligst meine Ruhe. Geht mir vom Leibe mit eurer elenden Maispflanzerei. Ich will nichts damit zu schaffen haben. Ich kann ihn eben nicht leiden. Ich kann keinen sehen. Ich hasse ihn, verstehst du?
Und Mutter weiß das. Sie weiß auch warum. Nicht genau, aber ungefähr. Und dass sie trotzdem heimlich welchen gesetzt hat, ist einfach gemein. Sie wusste genau, dass ich keinen Mais im Garten sehen will. Ich will keinen Mais, und sie weiß es. Trotzdem hat sie heimlich welchen gesetzt. Ein ganz schönes Stück sogar, und gleich vorne an. Da hab ich eben die jungen Pflanzen, als sie zum Vorschein kamen, einfach rausgerissen und auf den Misthaufen geworfen. Sie wusste ja, dass ich ihn nicht sehen kann. Und doch hat sie Mais gesetzt. Heimlich, und was fürn Stück. Nun jammert sie dir was vor, weil ich die jungen Pflanzen rausgerissen habe. Und du predigst mir nun was von Rücksicht und Vernunft und Hühnerfutter und Saatfrevel und was weiß ich noch fürn Quatsch.
Aber es hat ja keinen Zweck, es dir zu erklären. Du kannst es doch nicht begreifen. Wie solltest du es begreifen können. Für dich ist der Mais eben Mais. Eine Nutzpflanze. Anspruchslos und wetterfest. Als Hühnerfutter hevorragend geeignet. Hauptanbaugebiet Amerika, Balkan und Russland - und Russland. Gedeiht aber auch bei uns. Wird nur meist viel zu eng gehalten. Viel zu eng. Nimmt sich gegenseitig die Luft weg und bleibt klein. Ziemlich klein bleibt er hier bei uns. Aber in Amerika und auf dem Balkan und in der Ukraine - und in der Ukraine, da setzen sie ihn schön weit auseinander. Da wird er groß und stark und dicht. Da hat der Bauer Platz genug, um mit dem Pferd durch die Reihen zu gehen. Jawohl, mit dem Pferd durch die Reihen, ohne dass eine Staude umknickt. Ich hab's selbst gesehen - in der Ukraine. Und nicht nur ein Pferd hat Platz. Was anderes auch. Ein Mann zum Beispiel. Viele Männer; Männer mit Sturmgepäck und Stahlhelm und mit Handgranaten und Drahtscheren im Koppel und Maschinenpistolen unterm Arm. Männer in grauen und Männer in erdbraunen Kleidern. Die haben genauso Platz zwischen den Reihen wie der Bauer und sein Pferd.
Aber wozu erzähl ich dir das. Dir! Für dich ist ein Maisfeld ein Maisfeld. Wenn du im August aus deinem Dienstabteilfenster guckst, dann sagst du entweder: Er steht gut dies Jahr, der Mais. Oder: Ist nicht doll dies Jahr mit dem Mais. Oder: Steht sehr schlecht dies Jahr, der Mais. Oder eben einfach bloß: Mais. Und wenn du frei hast und zu Hause bist und kommst mal vorbei an so einem Feld, dann sagst du einfach: aha, Mais. Kann bald ab. Hat sehr schöne Kolben. Ia Hühnerfutter. Werd nächstes Frühjahr auch was setzen. Werd Mutter sagen, sie soll nächstes Frühjahr auch was setzen. Ein Stück wenigstens. Vor allem wegen der Hühner. Und dann faßt du ein, zwei Kolben an oder lässt eins von den Blättern durch deine Hand gleiten. Und dann nickst du ein paar Mal und denkst: Ja, ja, der Mais. Und dann gehst du weiter. Dann gehst du einfach weiter, als ob nichts war. Und warum auch nicht? Was geht er dich sonst noch an, der Mais? Was hast du weiter mit ihm zu schaffen? Du - du - ja du!
Aber ich! Weißt du denn, was mit mir geschieht, wenn ich Mais sehe? Kannst du dir vorstellen, was mit mir los ist, wenn ich an so ein verfluchtes Maisfeld komme? Soll ich es dir sagen? Meinst du, du könntest es begreifen? Begreifen, wie es kommt, dass jedes Mal, wenn ich irgendwo auf ein paar kümmerliche Maispflanzen stoße, plötzlich ein ganzes Riesenfeld da ist? Ein einziges, riesiges Pflanzenmeer, kann ich dir sagen. Und ich selber bin auf eimal mittendrin. Die Stauden sind plötzlich ein ganzes Stück höher als mein Stahlhelm, und ich gehe zwischen zwei Reihen entlang wie in einem schmalen grünen Graben. Und es ist ukrainischer Mais, und der Spatenknauf schlägt bei jedem Schritt in die Kniekehle. Rechts und links von mir sind noch viele andere, aber ich kann sie nicht sehen. Ich höre nur ihre Stimmen und Metallgeklapper. Rechts vor mir fallen Schüsse, und ich presse den Kolben von diesem seltsamen, kalten, öligen Ding mit dem durchlöcherten Eisenmantel krampfhaft gegen die Hüfte. Ach wie gerne würde ich jetzt zurücklaufen zu dem verdreckten Viehwaggon, der mich vorgestern bis dicht and dieses Maismeer herangebracht hat, in dem ich 22 Tage mit 35 anderen gehaust habe und von dem ich mich so sehr fortgewünscht habe nach hierher, an diesen grünen Graben. Ach wie gerne würde ich jetzt sogar zurücklaufen bis zu diesem elenden Zuchthaus von Kaserne, vor dessen Tor ich noch vor 24 Tagen die letzte Strafwache geschoben habe und von dem ich mich so sehr fortsehnte nach hierher, in diesen grünen Graben!
Aber nun bin ich hier und kann nicht zurück, denn ringsum sind die anderen, und rechts vor mir fallen Schüsse, und drei, vier Reihen links von mir geht der Leutnant. Ob er auch zurück möchte? Ein Glück, dass ich diese Ding wenigstens unterm Arm habe. Es ist, als saugten die schwarzen Löcher in dem Eisenmantel gerade immer so viel von meiner kalten Angst in sich ein, als zum geradeaus weitergehen nötig ist. Nicht mehr und nicht weniger.
34 Schuß, sagt der kleine kalte Abzugsbügel zu meinem rechten Zeigenfinger. 34 Schuß, sagt mein Zeigefinger zu mir. 34 Schuß - sei doch ruhig - das langt - geh weiter - 34 Schuß - sei doch ruhig - nein, du mußt weiter - Mann, 34 Schuß - 34 Schuß - Mensch, das langt doch - geh weiter, Mensch - 34 Schuß - die Anderen - der Leutnant - 34 Schuß - der Viehwaggon - die Kaserne - Renate - geh weiter - Mutter - Kriegsgericht - geh weiter - 34 Schuß - Mann, das langt doch - 34 Schuß...
Und dann steht er plötzlich vor mir. Die Stauden gehen auseinander, und er steht vor mir. Seine Schultern sind wie ein Spind aus so einer verdammten Kasernenstube, und sein Koppelschloss sitzt ganz schief. Seine plumpen Riesenarme streckt er hoch über seinen bloßen Kopf mit den hellen, schweißverklebten Haaren hinaus, und aus dem rechten Ärmel sickert es naß und dunkelrot. Der Mund in dem dicken, geröteten Gesicht ist ein lächelnder, ängstlicher, flehender, fragender, demütiger Kindermund, und die Augen sind sehr hell, sehr groß und sehr blau. Und während der ganzen Zeit, da ich das sehe, während der ganzen hunderttausend Jahre dieses Augenblicks, da ich das sehe, lacht das Ding unter meinem Arm. Es lacht meckernd und schrill und rasend und ohne Unterbrechung. Es lacht 34 Mal...
Danach liegt dann ein erdbrauner Haufen in meinem grünen Graben. Danach sind dann ein paar Stauden zur Hälfte wegrasiert, kurz über den dicken, blätterverhüllten Kolben. Und die Kolben sind rot. Über und über rot.
Danach lacht dann die Stimme des Leutnants neben mir: Mensch, Sie Kalkeimer, wenn Sie für jeden ein ganzes Magazin brauchen, muß ich für Sie einen Extramunitionskarren anfordern!
Danach wechsle ich zitternd das Magazin aus, mache einen großen Schritt über den erdbraunen Haufen hinweg und lauf; vorbei an den halbierten Stauden mit den blutigen Kolben, weiter meinen grünen Graben entlang...
Dabei ist gar kein grüner Graben da, sondern nur so ein paar kümmerliche Maispflanzen in einem dieser kleinen Schrebergärten. Dabei hab ich gar keinen Stahlhelm und keine Uniform und keine Maschinenpistole, sondern nur eine alte Mütze, einen verbeulten Anzug auf Bezugsschein und Vaters schäbige Aktentasche aus Wachstuch. Und doch ist das alles da. Vor allem die großen blauen Augen, die rotgespritzten Kolben und der Kindermund...
Damals, die erste Zeit danach, war es am schlimmsten. Überall stand er herum und sah mich an.
Etwas später, als ich die ersten von uns so daliegen sah, verschwand er vorübergehend. Aber er kam wieder. Zuerst im Lazarett. Er begleitete mich überall hin. Nach Deutschland, nach Italien, nach Holland. Auch als dann alles zu Ende war, blieb er bei mir. Bis heute.
Ich versuchte alles mögliche, um ihn loszuwerden.
Ich gab ihm einen hochgeschwungenen Gewehrkolben in die Hände. Ich gab ihm mordgierige Augen und einen grausamen Mund. Jedem, der von mir etwas vom Krieg erzählt haben wollte, zeigte ich ihn so. Aber vergeblich.
Seine Hände bleiben leer. Sein Ärmel blutig. Sein Gewehr bleib ungefährlich drei Schritte hinter ihm im Sande liegen. Seine Augen bleiben groß und blau und bittend. Sein Mund blieb der lächelnde, flehende Kindermund. Es half nichts. Er blieb bei mir.
Ich malte mir aus, was aus ihm geworden wäre, wenn ich nicht ... Transportqualen - Hunger - Blutvergiftung - Gefangenenlager - Typhus - Auschwitz - - Irgendwie, irgendwo, irgendwann hätte ihn dieses mörderische Getriebe doch zermalmen müssen. Und war es nicht deshalb eher eine Wohltat für ihn? Ohne Schmerzen - in Gedankenschnelle? Aber vergeblich.
Konnte er nicht Glück gehabt haben? Konnte er nicht auf irgendeinem stillen Bauernhof in Mecklenburg, oder in Bayern, Kartoffeln gehackt, Roggen gesät, Mist gekarrt, Hafer gedroschen, ein Pferd gefütter, eine Kuh gemolken haben, bis der Krieg zu Ende war? Konnter er nicht vielleicht heute, jetzt, wieder seine dunkle, schwere Heimaterde umpflügen? Konnte er nicht vielleicht noch leben, heute, jetzt und morgen, und in seiner Heimat? Konnte er das nicht? Er blieb bei mir.
Dann versuchte ich ein Gewaltmittel. Gift gegen Gift.
Immer wenn er vor mir auftauchte, holte ich rasch die Dreiundzwanzig von jenem weißgrauen Wintermorgen heran. Ich ließ sie wieder aus der Ferne auf das Erdloch losrennen. Ich ließ sie wieder herankommen, bis mir das Herz wie ein wilder Hammer gegen die Kehle schlug. Und dann ließ ich sie wieder diesen grotesken Tanz vollführen, während das eiserne Mordding vor mir lachte und den Gurt fraß und lachte und lachte - bis alles still war wie vorher. Wie Tage und Wochen vorher. Still und stumm und weiß und eisig und starr.
23, ließ ich den anderen wieder sagen. Den Schützen zwei. Koch hieß er. Er lispelte, und sein Gerippe modert irgendwo im großen Donbogen. 23, ließ ich ihn wieder sagen, während er in das Loch zurückkletterte. 23 - - aber vergeblich.
Die 23 taten mir nichts. Sie blieben fremde, kleine, tanzende Marionetten. Sie wollten dich ja töten! Sie hätten dich totgeschlagen! Mit dem blanken Spaten hätten sie dich totgeschlagen. Sie kommen nicht auf dein Konto. Sie kommen auf ein anderes Konto - auf wessen Konto? Egal, sie kommen jedenfalls nicht auf dein Konto.
Aber er! Er wollte dich nicht töten! Er hatte sein Gewehr fortgeworfen, es lag drei Schritte hinter ihm. Seine Augen und sein Kindermund flehten dich an um Gnade. Er gehört dir! Dir! Dir allein! Du hast ihn ermordet! Er wird bei dir bleiben. Er blieb bei mir.
Schließlich versuchte ich einen letzten Trick. Ich begann Scheußlichkeiten seiner Landsleute zu sammeln. Ich kramte mein Gedächtnis um und um. Begierig ließ ich mir von anderen jede erreichbare Untat berichten und tat alles zusammen auf einen Haufen. Das half eine Weile. Er verschwand. Der Haufen verbarg ihn.
Aber dann kam der Tag, da alles zerbrach, und plötzlich sah ich einen zweiten Haufen daneben liegen. Er war erschreckend viel größer und stank fürchterlich. Und er gehörte meinen Landsleuten! Da kam er wieder zum Vorschein. Zwischen den beiden Haufen trat er hervor, auf mich zu, und seitdem blieb er bei mir. Bis heute.
Nicht, dass er dauernd vor mir steht. Nicht, dass er hinter jeder Gardine, hinter jedem Gebüsch, in jeder dunklen Ecke steht und mich anstarrt, so wie man es in manchen Gruselgeschichten liest. Nein. So erbarmungslos ist er nicht. Er ist ausgesprochen rücksichtsvoll und bescheiden. Selten, dass er einmal unerwartet und grundlos vor mir auftaucht.
Aber etwas gibt es, das ihn sofort herbeizaubert. Eben dieser verfluchte Mais! Ein paar kümmerliche Stauden genügen, er ist sofort da. Er und all das andere: Das Riesenfeld - der grüne Graben - das Metallgeklapper - das Geschieße rechts vor mir - das 34fache Gelächter des Todes - die lachende Leutnantsstimmte - der erdbraune Haufen - die abrasierten Stauden - und die blutigen Maiskolben. All das ist zu Stelle. Wie ein zusammengeklebtes Bild. Und durch dieses Bild hindurch sieht er mich lächelnd an, mit großen, sehr blauen Augen und bettelndem Kindermund.
So. Nun weißt du es, das mit dem Mais. Ich wollte es dir längst sagen. Ich dachte nur, dass du es ja doch nicht begreifst.
Und nun kannst du mir weiter was erzählen von Hühnerfutter und Saatfrevel und Vernunft - falls du noch Lust dazu hast.
* Richard von Weizsäcker, Rede am 8. 5. 1985
Bertolt Brecht, geboren am 10. 2. 1898 in Augsburg, gestorben am 14. 8. 1956 in Berlin. Bedeutender deutscher Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts.
Bruno Hampel, geboren 1920 in Berlin, gestorben 1996. Schriftsteller.
"Das mit dem Mais" In: Weyrauch, Wolfgang: Tausend Gramm : Sammlung neuer deutscher Geschichten / Hrsg. von Wolfgang Weyrauch. - Hamburg ; Stuttgart ; Baden-Baden ; Berlin : Rowohlt, 1949. - Seiten 87 - 96
Max Zimmering, geboren am 16. 11. 1909 in Pirna in Sachsen, gestorben am 15. 9. 1973 in Dresden. Schriftsteller.
"Deutsches Landsknechtslied 1943" In: Zimmering, Max: Im Antlitz der Zeit : Ausgew. Gedichte 1930 - 1946. - Berlin : Dietz, 1948. Seite 94