Bei dem Stadtrundgang soll am authentischen Ort an einigen Beispielen aufgezeigt werden, wie die 'Arisierungen' in Witten abliefen.
Die oft fassungslos gestellte Frage, wie konnte "es" passieren, erhält durch die Erläuterungen während des Stadtrundganges und durch den Vortrag des Autors eine konkrete und anschauliche Antwort. Damit sollen auch Kenntnisse gewonnen werden, die helfen, es nie wieder soweit kommen zu lassen.
Bei dem Vortrag im Leseraum der Buchhandlung Lehmkul soll schwerpunktmäßig die Rolle der Wittener Gesellschaft beleuchtet werden: Aus welchen Gesellschaftsschichten kamen die "Arisierer"? Wie erfolgreich war der antisemitische Boykott? Gab es Widerstand dagegen? Wie verhielten sich beispielsweise die Nachbarn der Wittener Juden? Wie ging man nach 1945 mit diesen Verbrechen um? Von daher wollen wir uns an diesem Abend auch vergegenwärtigen, inwiefern die Reflektion über das Geschehen damals in Witten uns heute bei der Gestaltung unserer Städtepartnerschaft mit der polnischen Stadt Tczew hilfreich sein kann.
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Dahlmann, Hans Christian:
'Arisierung' und Gesellschaft in Witten : Wie die Bevölkerung einer Ruhrgebietsstadt das Eigentum ihrer Jüdinnen und Juden übernahm . - Münster ; Hamburg ; Berlin ; London : Lit, 2001 . - 256 S. (Politische Soziologie; 14) ISBN 3-8258-5662-3 Das Buch ist noch in der Buchhandlung Lehmkul erhältlich: Inh.: Dr. Sabine Wirths-Hohagen |
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Das Angebot, eine Veranstaltung über die 'Arisierung' des Eigentums Wittener Juden machen zu können, fügte sich schlüssig in die Themen der Veranstaltungsreihe zur Städtepartnerschaft Tczew und Witten, die der Freundschaftsverein durchführt. Bei den bisherigen Veranstaltungen war schon in verschiedener Weise versucht worden, einen Blick auf die Opfer und Täter des Nationalsozialismus zu werfen, weil dieser Teil der deutschen Geschichte bis heute Auswirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis hat. Mit dieser Veranstaltung bot sich nun ein Blick auf einen Teil der Geschichte, der uns Wittenern sehr nahe ist.
Der Referent der Veranstaltung, Hans-Christian Dahlmann, ein ehemaliger Schüler des Wittener Schiller-Gymnasiums, nutzte seine Ferien an der Deutschen Schule in Warschau, an der er heute als Lehrer arbeitet, um in Witten diese Veranstaltung durchzuführen. Ursprünglich war nur ein Veranstaltungsabend geplant gewesen. Durch die gute Resonanz bei den Schulen, denen die Wiederholung der Veranstaltung während der Unterrichtszeit angeboten wurde, kamen drei weitere Tage mit Stadtrundgängen für insgesamt fünf Klassen bzw. Kurse hinzu. Herr Dahlmann zeigte sich zufrieden damit, dass auf diese Weise insgesamt 170 Personen erreicht wurden, die sich ganz hautnah mit der jüngeren Geschichte Wittens auseinander setzen konnten.
Stadtrundgang und Vortrag zeichneten sich dadurch aus, dass Herr Dahlmann aus den bekannten und schockierenden Fakten eine Auswahl traf und damit bei der Vermittlung der Information zugunsten der Anschaulichkeit und des Überblicks über das gesamte Thema Schwerpunkte setze. Dadurch gelang eine differenzierte Sicht auf die Ereignisse, wodurch die Zuhörer eben nicht von dem Schrecken übermannt wurden, sondern durch das Aufzeigen der Handlungsspielräume, die es auch im terroristischen System des Nationalsozialismus gab, zu einer aktiven Auseinandersetzung eingeladen wurden.
Die Fragen und Beiträge der Teilnehmer der Stadtrundgänge zeigten, dass hier Impulse gegeben worden waren, sich mit der "eigenen" Geschichte in Witten aktiv auseinanderzusetzen. Und so zeigt sich, dass Erinnern und Gedenken sich als aktiver, aufklärender Prozess gestalten lassen.
Der Schrecken hinter den Fassaden
Bei einem Stadtrundgang erinnert Hans-Christian Dahlmann an die "Arisierung" in der Ruhrstadt.
An zahlreichen Schauplätzen wurden jüdische Geschäftsleute und Privatpersonen enteignet
Geschichte kann so spannend sein. Was Hans-Christian Dahlmann rund 30 Wittenern bei einem Stadtrundgang zum Thema "Arisierung" präsentierte, öffnete neue Blickwinkel. "Vor Ort aus der Geschichte lernen" - das Motto, unter dem der Freundschaftsverein Tczew - Witten zu dem Rundgang geladen hatte, traf den Kern dieses klirrend kalten Februar-Abends. (Vormittags führte Dahlmann auch Klassen des Schiller-Gymnasiums durch die Stadt.) Wie eine Mischung aus Schulausflug und mahnender Prozession wanderte die Gruppe durch die Wittener Innenstadt. Zitternd vor Kälte und im Angesicht des Schreckens, der sich hinter den ihnen so gewohnten Fassaden vor 70 Jahren ereignete. "Man sieht seine Stadt jetzt mit anderen Augen", sagte Volker Keller, Geschichtslehrer am Schiller-Gymnasium.
Der studierte Politikwissenschaftler Dahlmann machte die "Arisierung" zum Thema seiner Staatsarbeit und eines Buches. Für die Route hatte er verschiedene Orte ausgewählt, an denen jüdischen Bürgern in Zeiten der NS-Diktatur das Eigentum genommen wurde. Psychologischer Druck, Geschäftsboykott, rohe Gewalt und Misshandlungen - beinahe jedes Mittel war recht, um die Wittener Juden zu enteignen. Dahlmann erläuterte den staunenden Zuhörern viele Einzelheiten zu den einzelnen Fällen. "Bemerkenswert ist, dass die so genannten Arisierer sich nicht auf politische Lager oder Schichten begrenzen ließen." So sei die Frage des Profits für viele Menschen bedeutender gewesen als ideologische Fragen. "Dennoch gab es klare anti-semitische Haltungen und Klischees, die noch bis in die Rückerstattungsprozesse in den Fünfziger Jahren nachgewirkt haben."
Vor allem die Geschäftslandschaft wurde in den Dreißiger Jahren "arisiert". Beginnend an dem Ort, wo heute Wittens größtes Kaufhaus steht, die obere Bahnhofstraße entlang, durch die Nordstraße wieder zurück auf den Rathausplatz - die Schauplätze des Terrors finden sich Witten alle wenige hundert Meter weit. "Heftig", kommentierten die zahlreichen jungen Zuhörer Dahlmanns Ausführungen zu den Ereignissen in der Reichspogrom-Nacht 1938.
Zurückgekehrt in den warmen Veranstaltungsraum der Buchhandlung Lemkuhl, vertieften die Teilnehmer das Thema im Gespräch mit dem Autor. Sehr lebhaft ging es da zu, bei einigen hatte der Rundgang offenbar Erinnerungslücken gefüllt. Eine Frau entsann sich, dass sie in den Fünfziger Jahren im "Amt für Wiedergutmachung" arbeitete, das für die Rückerstattung des Eigentums zuständig war, andere kannten sogar noch die alten Geschäfte. "Das passiert bei meinen Vorträgen immer wieder mal", so Dahlmann. Für ihn ist dieses Thema "mein Beitrag, um die Erinnerung wach zu halten."
Felix Guth
Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Witten, 10. 2. 2007