In der Pfingstwoche war der Freundschaftsverein Tczew - Witten mit einer besonderen Reisegruppe in Tczew. Entgegen der sonst einmal jährlich angebotenen Bürgerreisen nach Tczew, die allen Interessierten offen stehen, handelte es sich diesmal um eine Gruppe, die sich aus den Nachkommen einer ehemaligen deutschen Familie aus dem Kreis Tczew / Dirschau zusammensetzte. Unter dem Titel "Familie und Geschichte. Spurensuche in Tczew" hatte der Freundschaftsverein für die kleine Gruppe ein Besuchsprogramm in Polen organisiert. Ganz bewußt fuhren diese Nachfahren evangelischer, preußischer Bauern nach Polen und nicht in die Heimat oder nach Westpreußen. Es war keine Reise des Heimwehtourismus. Die Teilnehmer waren an einer umfassenden Auseinandersetzung mit der deutsch-polnischen Geschichte sehr interessiert. Mehr als sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Herkunft der Familie aus Polen zwar immer noch Gesprächsstoff der Eltern und Großeltern, aber es gab nur spärliche Informationen und dies war die erste Reise der Nachgeborenen nach Polen.
Das größte Abenteuer bestand für die Gruppe tatsächlich darin, mit den Verwandten, die sich weitgehend nur von den gelegentlichen Familienfesten persönlich kannten, eine so lange Zeit auf engem Raum gemeinsam zu verbringen. Die anfängliche Befangenheit gegenüber dem fremden Land und seiner völlig fremden Sprache hingegen verflog schon bei der Ankunft im Hotel, als die Gruppe sehr herzlich und noch spät abends mit einem guten Essen empfangen wurde.
Die Gruppe besichtigte die Städte Tczew und Gdansk. Bei der alten Weichselbrücke in Tczew konnten sie den Motor des Aufschwungs der Stadt im 19. Jahrhundert betrachten, während ihr im alten, heute kaum genutzten Hafen von Gdansk, der Strukturwandel der letzen zwanzig Jahre verdeutlicht wurde. Auf dem Programm standen auch ein Besuch des Museums Stutthof, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof, sowie der nationalen Gedenkstätte in Spengawask, wo von den Nationalsozialisten 7000 Menschen im Wald ermordet worden sind. Beim Besuch alter kleiner Dörfer und aufgegebener Hofstellen in der Region, kam es zu bewegenden Gesprächen in der Gruppe. Die Vorfahren, die 1945 vor der zurückrollenden Ostfront geflüchtet waren, hatten selber viel Leid erfahren.
Nach dem Überfall 1939 und dem Vernichtungskrieg gegen Polen hatten die Nationalsozialisten versucht, ein rein deutsches Siedlungsgebiet herzustellen. Polnische Hofbesitzer waren früh morgens von ihrem Hof weg in Internierungslager und zur Zwangsarbeit getrieben worden, während deutschstämmige Bauern aus dem Osten Europas, die soeben verlassenen Höfe übernahmen. Vor dem Hintergrund der Verbrechen des Vernichtungskrieges gegen Polen und der Vertreibung der polnischen Bevölkerung gelang der Gruppe eine historische Einordnung der Schrecken, die die eigenen Vorfahren erleben mußten. Im Zusammenhang mit den Erlebnissen im heutigen Polen und den gewonnen Einblicken in die Geschichte kam es zu einem neuen Nachdenken über die Zusammenhänge von Schuld, Verantwortung, zugefügtem und erlittenem Leid. Das die Geschichte keineswegs vorbei und vergessen ist, wurde am Abend nach der Rückkehr von der Fahrt nach Stutthof bewußt. Auch in dem Hotel, in dem die deutsche Gruppe so herzlich empfangen und bewirtet worden war, trauerte man um Verwandte, die nicht aus dem KZ Stutthof zurückgekehrt waren.
Für den Freundschaftsverein war dies eine interessante Reise, bei der wir selber noch viel über die Geschichte des Lebens in den Dörfer in der Weichselregion lernen konnten. Erfreulich war, daß sich auch diese Nachfahren von Flüchtlingen des Zweiten Weltkrieges an einem Verstehen der Geschichte und der Verständigung mit Polen interessiert zeigten und sich in keiner Weise von den markigen Sprüchen der Funktionäre der deutschen Vertriebenenorganisationen vertreten fühlten. Der Freundschaftsverein Tczew - Witten hat bereits verschiedene öffentlichen Veranstaltungen über das Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen durchgeführt und lädt am 3. Juni zu einer weiteren Veranstaltung ein. Der Tczewer Historiker Akadiusz Welniak von der Universität Gdansk wird dann über seine Forschungen über die Bevölkerungsverschiebungen in der Stadt Elbing in der Zeit zwischen 1945 und 1955 berichten.