Seit dem Jahr 1959 unterhält die Stadt Witten offiziell eine Patenschaft über die ehemaligen deutschen Bürger der Stadt Tczew in Polen, die bis 1918 vorrangig unter dem Namen Dirschau bekannt war. Die Stadt Tczew / Dirschau, der im Jahre 1260 vom polnischen Herzog Sambor II. die Stadtrechte verliehen worden waren, kam bei der ersten polnischen Teilung unter preußische Herrschaft und gehörte zur Provinz Westpreußen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Staat Polen neu gebildete und die Stadt gehörte seitdem wieder zu Polen. 1939 wurde an der Weichselbrücke in Tczew und an der Westerplatte in Danzig durch den deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen. Die bis zu diesem Zeitpunkt über die Jahrhunderte in Tczew lebende deutschsprachige Minderheit flüchtete, als der von Deutschland begonnenen Krieg mit Tod und Vernichtung in Richtung Deutschland zurückrollte.
Die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe war in diesem Gebiet, in dem Polen und Deutsche über Generationen zusammengelebt hatten, insgesamt etwas unübersichtlich. Der Familienname sagte allein noch nicht unbedingt viel aus. Und die nationalsozialistische Politik der "Deutschen Volksliste", bei der die Zugehörigkeit zu dieser oder jenen Gruppe über die Ernährungslage und Überlebenschancen der Familie mitentschied, erzeugte einen Druck hin zur Germanisierung. Die polnischen Bürger, die diesem Druck widerstanden, wurden zur Zwangsarbeit für das kriegführende Deutschland eingezogen, wer sich auf der "Deutschen Volksliste" eintrug, wurde als Kanonenfutter zum deutschen Militär gezogen. Entsprechend unklar und in einer Atmosphere aus Mißtrauen und Aggression gestaltete sich die Situation nach dem Einmarsch der Roten Armee im Winter 1945.
Im Jahre 1945 verloren die deutschen "Dirschauer" ihre Heimat in Polen. Polen war am 1. September 1939 von Deutschland überfallen worden, gegen Polen war der erste Vernichtungskrieg im Osten geführt worden. All diese Verbrechen können aber die Folgen des von Deutschland begonnenen Ersten Weltkrieges nicht in Frage stellen. Tczew war seit 1918 wieder eine zum polnischen Staat gehörende Stadt.
Auch wenn solche kleine, entscheidende Details teilweise vergessen zu werden scheinen, die "Vertriebenenverbände" und "ihre" Politiker das Unrecht der Vertreibung beklagen, wobei sie anscheinend gleichzeitig die Unschuld einer deutschen Geschichte, die am 8. Mai 1945 beginnt, voraussetzen und sich dies in den Grenzen Preußens von 1772-1795 denken, so ist es doch unser Anspruch, bei Zurückweisung des Falschen, die Menschen in ihrem persönlichen Schicksal anzunehmen. Es gilt die Leistung der Integration der Flüchtlinge in die demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen und die konkrete Politik des Heimatkreises Dirschau kritisch zu würdigen.
Aus diesem Grunde nimmt der Freundschaftsverein Tczew - Witten an der Feierstunde des "Heimatkreises Dirschau" und der Stadt Witten teil.
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Daß Sie vom "Heimatkreis Dirschau" heute auf über 50 Jahre einer lebendigen Vereinstätigkeit zurückschauen können, ist eine Leistung, die der Feier und des Rückblicks wert ist.
Wir wissen, daß Sie Herr Grams von Anfang mit dabei waren und ihren Anteil am Bestand des Heimatkreises haben. Sie wurden zu einer tragenden Säule des Vereins und wir möchten ihnen für ihre Einladung und die Gelegenheit zu Ihnen zu sprechen, danken.
Blicken wir auf die 50 Jahre Patenschaft der Stadt Witten über die Mitglieder ihres Heimatkreises, so blicken wir auch in die Geschichte der Stadt Witten und der jungen Bundesrepublik Deutschland.
Wenn wir also heute über diese Geschichte des "Heimatkreises Dirschau" nachdenken, so wollen wir Wittener Bürger all denen danken, die sich der Stadt "Dirschau" verbunden fühlten und aktiv daran mitgewirkt haben, daß wir heute eine Städtepartnerschaft mit Tczew haben.
Ihre Geschichte des "Heimatkreise Dirschau" bietet für uns Einsichten und Erkenntnisse, die auch für uns von Interesse sind.
Der "Heimatkreis Dirschau" versteht sich als eine Organisation der Vertriebenen, eingebunden in den "Bund der Vertriebenen".
Vertriebene.
In jenem schrecklichen Winter 1944-45 flüchtete die deutsche Bevölkerung vor der herannahenden Ostfront, vor dem von Deutschen begonnenen Krieg.
Angekommen, diesseits der Elbe, sprach man wenige Jahre später nur noch von den Vertriebenen.
Der Sprachgebrauch ging in diesen Jahren weg von dem Wort "Flüchtlinge", das auf den Krieg und die Täterschaft der Deutschen hinweist, hin zu dem Wort "Vertriebene". In diesem Begriff erscheint das deutsche Volk ausschließlich als Opfer.
Dies war die Ausgangssituation für diese Patenschaft der Stadt Witten über die Dirschauer.
Nun waren es aber die selben Herren, die vor 1945 die Politik der Umsiedlung und Vertreibung der Polen und anderer organisiert und durchgeführt hatten, die nun die "Vertriebenen" organisierten und z. B. als Bundesminister der Vertriebenen die Stadt Witten mit einem Grußwort zur Übernahme der Patenschaft erfreuten.
Aber nehmen wir den Begriff Vertreibung einmal an und sehen weiter.
Heute, in unserer Zeit werden weltweit zehntausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben.
Ich denke, daß die Frage berechtigt ist: Warum hört man nicht die Stimme der deutschen Vertriebenenverbände mit Ihre Mahnung als moralische Instanz gegen die Vertreibung von Menschen?
Nehmen wir ein Beispiel: Wir sehen den billigen Fisch, den die europäischen Fangflotten aus den afrikanischen Gewässern in unsere Supermärkte bringen. Sehen wir auch das Elend und das Sterben der afrikanischen Fischer, vertrieben aus ihren Fanggründen, auf ihrer verzweifelten Flucht zu neuen Ufern?
Was lernen wir also aus der Flucht, dem Elend und der Vertreibung der Zivilbevölkerung zum Ende des Zweiten Weltkrieges?
Welche Bedeutung hat diese Erinnerung heute?
"Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen", sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 40. Jahrestag der Befreiung im Jahre 1985.
Hier weist einer, dessen Familie in das System des deutschen Faschismus involviert war, auch darauf hin, daß das Bemühen um eine wahrheitsgetreue geschichtliche Überlieferung wesentlich für die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft ist.
Dieses Ringen um mehr Demokratie und um Wahrhaftigkeit finden wir auch im Heimatkreis Dirschau. Und wir sehen die Früchte dieses Bemühens.
Während bei der Gründung der Patenschaft der "Heimatkreis Dirschau" noch die "Geltendmachung des Anspruchs auf die Heimat" verfolgte, was sich noch einmal im Jahre 1971 in Ihrem Mitteilungsblatt, dem "Dirschauer Boten" in einem entsprechenden Artikel zeigte, der gegen die Politik der Verständigung mit den östlichen Nachbarn gerichtet war, sagte die damals junge Generation Anfang der 1970’er Jahre:
So kann es nicht weitergehen!
Unter Mühen kam es in den folgenden Jahren zu Veränderungen, am Ende stand der "Heimatkreis Dirschau" als eingetragener gemeinnütziger Verein da, und im Jahre 1975 gab es die ersten geheimen Wahlen in ihrem Verein.
Dieser Prozeß der Erneuerung war notwendig und blieb nicht folgenlos. Wäre die erste Fahrt nach Polen im Jahre 1975 ohne diesen Klärungsprozeß möglich gewesen?
Von Anfang an begleitete eine Person das Werden des Heimatkreises, die weniger in der Öffentlichkeit präsent war, aber entscheidende Impulse gab. Schon Mitte der 1960'er Jahre vertrat Herr Gerhard Neumann die Auffassung, daß es gut wäre, wenn es zu Jugendbegegnungen zwischen Deutschen und Polen kommen würde. Er wußte, daß er seiner Zeit voraus war.
Es brauchte dann noch bis zum Jahre 1979 bis es dazu kommen konnte, daß Gerhard Neumann im Dirschauer Boten zum ersten Mal mit klaren Worten an den 1. September 1939 erinnerte, dem Tag an dem die Deutschen den Zweiten Weltkrieg begonnen hatten. Sein Artikel endet mit der Feststellung:
"Die tragischen Ereignisse, die im Frühjahr 1945 und danach
die deutsche Bevölkerung in unserer Heimat getroffen haben,
hatten ihren Ursprung im Herbst 1939. ..."
Bevor er, Gerhard Neumann, der mit Dirschau seine alte Heimat verloren hatte, im Jahre 2004 starb, sagte er mir in einem Gespräch, daß das Kapitel "Dirschau" für ihn persönlich abgeschlossen sei.
Er ist einer von denen, die den Weg von Dirschau nach Tczew gegangen sind, ihn aktiv gestaltet haben.
Schon 1960 berichtete er aus Tczew. Objektiv und durchaus auch wohlwollend beschrieb er, was die Polen aus seinem Dirschau gemacht hatten und wie sie sich auf die Feier des 700jährigen Stadtjubiläums vorbereiteten. Es gelang ihm, das Fremde in seiner alten Heimat nicht nur zu sehen, sondern es auch zu akzeptieren. Er sah, daß es anders war, es war nicht mehr seins, aber es war gut.
So legte er in sich einen Grundstein für ein neues Europa, in dem die Grenzen an Bedeutung verloren, weil das Fremde nicht mehr Bedrohung sein mußte, Verständigung denkbar wurde.
Der Begriff Heimat ist in Deutschland belastet, doch wir Menschen brauchen Heimat. Was bedeutet uns heute Heimat?
Können Sie sich Heimat vorstellen, ohne die Menschen?
Heimat ist nicht einfach ein Ort, ich denke, es gehört mehr dazu.
Eine Voraussetzung ist der Frieden. Dann bedarf es der Freiheit und der Rechte der Person. Bildung und gesellschaftliche Teilhabe sind weiterhin notwendig, damit sich der Mensch beheimaten kann, Heimat findet. Heimat ist eine Aufgabe für die Person und die Gesellschaft, die friedliches Zusammenleben möglich machen muß.
"Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!" So lässt es Goethe seinen Faust sagen.
Es ist kein Zufall, daß die Idee zur Städtepartnerschaft bei denen reifte, die sich aktiv und bewusst mit dem Verlust der Heimat auseinandersetzten. Es ist ein schwerer Weg gewesen, den Verlust der Heimat zu akzeptieren, aber es war eine befreiende und bereichernde Erfahrung, in der alten Heimat Freunde zu finden.
Städtepartnerschaft ist ein Vorhaben, daß zwischen dem Eigenen, hier, und dem Fremden, dort, vermittelt. Es ist die Arbeit an der Voraussetzung für den Frieden: Im Fremden den Menschen zu erkennen und anzunehmen.
In diesem Sinne möchte ich zum Abschluß noch einen alten Dirschauer erwähnen und würdigen, der deutlich macht, daß es lohnend ist, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen.
Arnold Krieger wurde im Jahre 1904 in Dirschau an der Weichsel geboren. Seine Familie verließ die Heimat, als diese 1920 wieder polnisch wurde. Er war Schriftsteller und zeichnet sich dadurch aus, daß er genau hingesehen hat.
Da wäre z. B. sein Roman über ein afrikanisches Schicksal zu nennen. Die Kritik lobte den Roman in hohen Tönen. Der Autor Arnold Krieger sieht in dem afrikanischen Menschen, im Fremden den Mitmenschen und er erkennt sich selbst wieder.
Unabhängig davon, wie sein schriftstellerisches Werk im Einzelnen heute zu beurteilen wäre, bleibt uns doch in seiner "Kleinen Magna Charta" aus dem Jahre 1959 ein auch heute noch brennend aktueller Text.
Es ist mein Wunsch, mich frei
unter freien Menschen bewegen zu dürfen.
Ich möchte frei von Angst und Grauen leben,
das Menschen den Menschen bereiten.
Ich will versuchen,
frei von Überheblichkeit und frei von Unterwürfigkeit
mein Leben nach dem von mir gewählten Leitbild zu gestalten
und mich niemals gegen die Stimme meines Gewissens
als seelenloses Material mißbrauchen zu lassen.
Ich weiß, daß die Erde kein vollkommendes Paradies sein kann,
aber ich möchte gern dazu beitragen,
das Verbrechen zu mindern
und das Heilsame zu mehren.
Wird die Geschichte des Zweiten Weltkrieges allein deshalb zur Vergangenheit, weil heute nur noch wenige Zeitzeugen eine persönliche Erinnerung an die Ereignisse und die Geschichte des 20. Jahrhunderts haben?
Die erhoffte und versprochene Entlastung durch einen Schlußstrich unter die Geschichte läßt die Menschen tatsächlich mit ihrer Geschichte alleine und bewirkt das Gegenteil einer Entlastung von der Geschichte. Offensichtlich ist die Geschichte des letzten Jahrhunderts noch lange nicht vergangen und wir brauchen eine aktive Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Dies wird auch an dem Roman des algerischen Autors Boualem Sansal deutlich.
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Autorenlesungmit Boualem Sansal
am 15.6.2009 um 19.00 Uhr im Deutsch-Französisches Kulturzentrum in Essen Centre Culturel Franco-Allemand |
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Boualem Sansal verbindet in seinem Roman die Tabuisierung des Holocausts in der arabischen Welt mit der tristen Realität der Einwanderer in den europäischen Vorstädten und den Methoden der Islamisten.
Dies ist die Geschichte des Deutschen Hans Schiller und seiner beiden Söhne Rachel und Malrich. Die Brüder wuchsen fernab der Eltern in der Pariser Banlieu auf. Sie sind in Frankreich geblieben. Rachel hat Karriere gemacht: er hat einen guten Job, ein kleines Häuschen, ein Auto, eine Frau - und die französische Staatsangehörigkeit. Sein jüngerer Bruder Malrich steht am Rande der Gesellschaft: ohne Ausbildung, ohne Job und ohne Perspektive lebt er als Mitglied seiner multikulturellen Clique in der Vorstadt. Als die Eltern der beiden im fernen Algerien auf grausame Weise bei einem Attentat der Islamisten umgebracht werden, gerät das Leben der Brüder aus dem Lot. Die Trauer um die Eltern bringt zugleich eine erschütternde Erkenntnis zu Tage: Der Vater, den sie bisher als einen vielgeachteten Held des algerischen Unabhängigkeitskampfes kannten, hat eine unerträgliche Vergangenheit ... Rachel zerbricht daran; Malrichs Versuch zu verstehen, führt ihn von der Nazi-Vergangenheit seines Vaters in die Abgründe der Gegenwart. Rezension: "Sansal attackiert algerische Tabus mit einer Heftigkeit, die einen um den Autor bangen lässt. Dieses Mal deckt Sansal das bislang gut gehütete Geheimnis auf, dass in den Reihen der algerischen Befreiungsbewegung FLN ... eine Reihe Deutscher mitkämpfte. Dabei handelte es sich zumeist um SS-Leute, um 'Fachleute', die sich auf den industriellen Massenmord verstanden oder sonstige 'Spezialisten', denen in den Nachkriegswirren die Flucht nach Ägypten gelungen ist." Johannes Willms, Süddeutsche Zeitung Sansal, Boualem: Erst im Alter von 50 Jahren begann die literarische Karriere des gelernten Ingenieurs und Ökonoms. Boualem Sansals erster Roman wurde von der Kritik gefeiert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Als Direktor im algerischen Industrieministeriums wurde er jedoch entlassen. In seinem gesamten Werk setzt sich der international renommierte Autor auf bisher ungehörte Weise mit der traumatischen Situation in Algerien auseinander und macht deutlich, dass die Situation in Nordafrika viel mit Europa zu tun hat. |
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