Die Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrages mit der polnischen Stadt Tczew stand auf dem Programm. Doch daraus wurde mehr. Freundschaften waren schon bei dem Besuch der polnischen Delegation vor zwei Monaten in Witten geschlossen worden. Und weil das so war, kannten die polnischen Gastgeber kein Pardon. Die Mitglieder der 19köpfigen Delegation mußten richtig arbeiten. So groß ist der Wissensdurst der neuen Verantwortlichen in Tczew, die sich in erster Linie aus Mitgliedern der Solidarität zusammensetzen. Es kam zu einem regelrechten Arbeitsbesuch, die Wittener wurden mit Fragen bombadiert und von einer Einrichtung zur anderen geschleppt. Wie vollgestopft das Programm war, drückt sich vielleicht in den Worten von Stadtdirektor Reinhard Wiederhold aus: "Ich habe nicht einmal die Weichsel gesehen!"
Doch dafür hat der Verwaltungschef sich ein Bild davon machen können, wieviel in der Stadt noch zu tun ist. Wie in anderen Ostblockstaaten auch, herrscht in allen Bereichen ein beängstigender Mangel. Das trifft auch für die Krankenhäuser zu. Reinhard Wiederhold: "Ich konnte es nicht mit ansehen, bin mehrfach weggegangen." Für den Chefarzt des evangelischen Krankenhauses, Prof. Dr. Gallenkamp, war das besonders deprimierend.,, Das müßten unsere Patienten einmal sehen. Hier wird noch mit Geräten aus dem Jahre 1939 operiert."
Nun, auf dem medizinischen Sektor konnten die Wittener eine kleine Hilfe leisten. Die Firma Ostermann stiftete
Geräte aus dem Jahr 1939
ein Gastroskop, das auch mit Unterstützung von Dr. Gallenkamp sofort in Betrieb genommen wurde. Bei dieser Gelegenheit stellte der Wittener Mediziner fest, daß das Krankenhaus nicht einmal im Besitz eines Ultraschallgerätes ist. Ein Gerät. das bei uns wohl zur Ausrüstung einer jeden Praxis gehört. Dieser Notstand soll jetzt schnellstens behoben werden.
Dur Dirschauer Heimatkreis, der sich schon seit 25 Jahren um eine Verständigung zwischen Deutschen und Polen bemüht, war der eigentliche Motor für diesen Freundschaftsvertrag, aus dem allerdings einmal mehr werden kann. Bürgermeister Lohmann kann sich gut vorstellen, daß daraus eines Tages eine Partnerschaft entstehen kann. Zu groß ist der Wissensdurst der Polen, die nun schnell nachholen wollen, was ihnen in 40 Jahren verwehrt wurde.
Sie hatten ihre Gäste in mehrere Arbeitsgruppen aufgeteilt. Neben der allgemeinen Verwaltung, standen Diskussionen zu Bildung, Sport, Kultur und Kontakte zu Kaufleuten und Handwerkern auf dem Programm. Was die 60 000 Einwohner zählende Stadt auf kulturellem Gebiet zu bieten hat, ist schon eine Wucht. Da kann Witten nicht mithalten. Wenn im nächsten Jahr das große Jugend-Orchester, verschiedene Chöre und Folkloregruppen nach hier kommen, können sich die Wittener Bürger selbst davon überzeugen.
Tczew war und ist eine Hochburg der Solidarität. Pfarrer Stanislaw Cieniewicz, dem die Delegation einen Besuch abstattete, zählt zu den führenden Köpfen der Solidarität, er war ein enger Vertrauter des ermordeten Danziger Priesters Jerzy Popieluszko. Die Stadt Tczew hat ihm dafür gedankt und ihn zum Ehrenbürger ernannt.
Dank stattete der Präsident der Stadt, Ferdynand Motas, auch dem Journalisten Czewskaw Czyzewski ab: "Wäre er nicht gewesen, dann stünde ich heute nicht hier." Seit 1980 hat Czyzewski - zunächst im Untergrund - eine Zeitung herausgebracht. Sie erscheint im bescheidenen Umfang als einzige Zeitung in Tczew einmal in der Woche. Czyzewski hat den Ehrgeiz, daraus eine "richtige" Zeitung zu machen. Den Berichterstatter hat er an den Druckort geführt, der dadurch Gelegenheit erhielt, die Kathedrale von Pelplin, das Diözesan-Museum (mit einer GutenbergBibel) und schließlich noch die Marienburg zu besichtigen. Dies alles blieb den anderen Delegations-Mitglieder verwehrt. Sie hatten keine Zeit, sich in der Umgebung umzusehen.
Der Grundstein für weitere Kontakte ist gelegt. So weilte
Hochburg der Solidarität
eine Gruppe junger Witten er zur gleichen Zeit in Tczew. Sie hatte im Gegensatz zu den Offiziellen hinreichend Gelegenheit, die herrliche Umgebung näher zu erforschen.
Der Chronist war zum ersten Mal in Polen. Pommern kannte er nur aus Erzählungen. Daß dieser Teil Polens einmal zu Deutschland gehört hat, davon ist heute nichts mehr auszumachen. Kein einziger Hinweis auf Stettin, Köslin oder Stolp, die auf der Fahrt nach Danzig am Wege liegen. An Szcecin, Koszalin und Stulpks muß man sich erst gewöhnen. Daß es bei Stettin eine West- und Ostoder gibt, die durch Autobahnbrücken überspannt wird, ist mir erst beim späteren Kartenstudium deutlich geworden. Die politischen Veränderungen machen es nun möglich, die gesamte Ostseeküste zu erforschen. Und diese Chance werde ich nutzen.
Bruno Busche
[Bildunterschrift zur Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages]
UNTERZEICHNUNG der Freundschaftsurkunde. Von links: Jan Kulas, Vorsitzender des Rates in Tczew, Ferdynand Motas, Präsident der Stadt, Stadtdirektor Reinhard Wiederhold und Bürgermeister Klaus Lohmann
[Bildunterschrift. Teilnehmer der Wittener Delegation in der Tczewer Altstadt]
VON TERMIN ZU TERMIN eilte die Wittener Delegation bei ihrem Besuch in Tczew. So blieb kaum Zeit für große Besichtigungen. Abstecher in die Umgebung fielen ganz aus. Kurz war auch der Besuch in der Altstadt, in der noch Reste einer alten Stadtmauer zu sehen sind. Tczew fiel nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 an Preußen. Durch den Versailler Vertrag 1918 lag Tczew dann im Polnischen Korridor zur Ostsee. Seitdem ist sie polnisch. Die Stadt hat im Laufe der Jahrhunderte durch zahlreiche Kriege mehrfach Schaden genommen. Fotos: Bruno Busche
Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Witten, 13. 10. 1990