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 Wittener Rundschau

15. 6. 1959
Nach 14 Jahren:

Dirschauer haben eine neue Heimat

Witten übernahm Patenschaft über die vertriebenen Bürger der Weichselstadt
In einer fast zweistündigen öffentlichen Sondersitzung des Rates fand gestern vormittag im überfüllten Rathaussaal die feierliche Übernahme der
Patenschaft für die im Bundesgebiet lebenden vertriebenen Dirschauer statt.
Oberbürgermeister R e i n c k e begrüßte die vielen Gäste und verlas ein
Telegramm des Bundesvertriebenenministers Prof. Dr. Oberländer, der seine
Glückwünsche übermittelte. Reincke betonte in seiner Rede, es sei zunächst
nicht leicht gewesen, eine ostdeutsche Stadt zu finden, für die Witten die
Patenstadt übernehmen konnte, denn Faktoren, wie eine etwa gleich große
Bevölkerungszahl, ähnliche wirtschaftliche Struktur und zahlenmäßiges glei-
ches Verhältnis der Konfessionen, spielen dabei eine Rolle.
reich entstamme und Hilfe und Schutz
bedeute. Die Dirschauer möchten eine
Stätte haben, die Sammel- und Mittel-
punkt ist. Im nächsten Jahr habe Dir-
schau seit 700 Jahren Stadtrechte, was
man festlich begehen wolle. Zu den
Mächtigen der Welt in Genf müsse die
Stimme der Vertriebenen dringen, mit
der Forderung auf ein freies Leben in
der Heimat. Nach dankenden Worten an
den Rat der Stadt, an die Geistlichkeit,
die Heimatgottesdienste abhielt, und an
die Verwaltung überreichte der Sprecher
dem Oberbürgermeister ein Oelbild mit
einer Ansicht der Stadt Dirschau.
   Dr. K o h n e r t, Vertreter der ost- und
westpreußischen Landsmannschaft im
Bundesgebiet, beglückwünschte die Dir-
schauer und sprach die Hoffnung aus,
daß ihnen die Heimat wiedergegeben
werde.
   Von der Landesregierung war Regie-
rungsrat H e i k e erschienen, der im Auf-
trag des Ministers der Stadt Witten den
Dank für die Uebernahme der Paten-
schaft aussprach. Er erklärte, von 189
Patenschaften im Bundesgebiet gebe es
allein in NRW 76, womit sich zeige, daß
das Land sich seiner Verantwortung den
Vertrieben gegenüber im klaren sei.
Auch Kreisvorsitzender H ü t -
t e n r a u c h vom Bund der Vertriebenen
sprach seinen Dank aus.
   Anschließend folgte ein Vortrag von
Schulrat i. R. K o r t h a l über die Ge-
schichte Dirschaus.
   Die Feierstunde wurde von Musik des
Collegium Instrumentale des Konserva-
torium, unter der Leitung von R. Ruthen-
franz, vom Chor der ost- und westpreu-
ßischen Landsmannschaft, und von Re-
zitationen umrahmt.

   Am 30. September vorigen Jahres habe
der Rat den Beschluß gefaßt, die Paten-schaft zu übernehmen, obwohl Dirschau
mit seinen einst 27 000 deutschen Bürgern und einer nur teilweise ähnlichen Indu-
strie den Wittener Verhältnissen nicht
ganz kongruent sei, doch besaß der Ort
an der Weichsel ein großes Eisenbahn-
ausbesserungswerk und wies manches
Aehnliche mit Witten auf.
   Ueber Dirschau selbst übernehme Wit-
ten die Patenschaft nicht, denn die Stadt liege außerhalb der Reichsgrenzen von
1937. Die Patenschaft gelte den im Bun-
desgebiet lebenden ehemaligen Einwoh-
nern, die zwar in den meisten Fällen
den wirtschaftlichen Anschluß an die
westdeutsche Bevölkerung gefunden hat-
ten, jedoch einer Stätte bedürften, die
ihnen stellvertretende Heimat sei bis zur hoffentlichen Rückkehr. Witten werde für

die Dirschauer eine Heimatkartei einrich-
ten, Material sammeln, um Auskünfte
über den Verbleib der Bürger erteilen zu
können, und sich für ein Heimattreffen
in den Mauern der Ruhrstadt einsetzen.
Es werde auch eine Straße den Namen

"Dirschauer Straße"

erhalten, sobald ein Neusiedlungsgebiet
erschlossen ist. Die Dirschauer würden
von Ihrer Patenstadt wie eigene Bürger
behandelt, denn Witten sei sich bewußt,
eine große Verpflichtung eingegangen zu
sein. Daß die Dirschauer ihre Heimat
eines Tages wiedersehen können und
dort wohnen dürfen, wünsche er ihnen
von Herzen, aber niemand wisse, wann
der Tag der Rückkehr komme. Im Volke müsse das Gefühl erhalten werden, daß
der Osten seit Jahrhunderten deutsche
Lebensraum war. Würde das vergessen,
hätten die Deutschen vor der Geschichte
versagt.
   Dann überreichte Ob Reincke dem
Dirschauer Heimatkreisvertreter, Ober-
studienrat R e n t z, die

Patenschaftsurkunde.

Rentz fand Worte der Dankbarkeit und
Freude und wies darauf hin, daß der Be-
griff der Patenschaft dem religiösen Be-