Anläßlich des Heimattreffens der Dirschauer in ihrer Patenstadt Witten, das an den Pfingsttagen stattfindet, schickte uns ein Dirschauer folgenden Bericht über eine Reise in seine Heimatstadt. Diese Zeilen sollen zugleich ein Gruß sein für alle Teilnehmer an diesem großen Treffen. Hier der Bericht:
Schon lange habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt, einmal meine Heimatstadt Dirschau zu besuchen. Am 9. Mai 1960 war es so weit. Ich hatte die Aufenthaltsgenehmigung von der polnischen Kreismiliz für einen 10-Tage-Aufenthalt in Dirschau bekommen. Die Kosten einer Reise nach Polen sind verhältnismäßig hoch. Neben den Fahrtkosten, den Kosten für das polnische Einreisevisum, das Durchreisevisum durch die DDR, dem Betrag für die Beschaffung der Aufenthaltsgenehmigung sowie den Bearbeitungskosten muß jeder Reisende aus der Bundesrepublik noch Hotelbons erwerben. Für jeden Tag Aufenthalt in Polen müssen 23,10 DM bezahlt werden. Dieser Betrag wird beim Übergang über die polnische Grenze in polnischen Zloty zum Kurs von 1 DM 5,60 Zloty ausbezahlt.
Je näher der Zug nach Dirschau kam, um so aufmerksamer sah ich durch das Abteilfenster. Es waren vertraute Landschaften und doch erschien mir vieles irgendwie fremd. Alle Felder waren bebaut. Brachland habe ich nirgends gesehen. Bei der. Einfahrt in Dirschau stellte ich fest, daß der Zug eine andere Strecke als früher fuhr. Der alte Dirschauer Bahnhof in der Nähe der Weichselbrücke existiert nicht mehr. Der neue Bahnhof befindet sich ungefähr 2 km weiter nördlich in Richtung Danzig am Stadtrand auf der Neustadt. Er hat vier Bahnsteige, die großzügig angelegt, sind.
Der Bahnhofsvorplatz ist geräumig und hat freundliche Grünanlagen. Es verkehren fünf Autobuslinien. Zwei davon haben regelmäßigen 10-Minuten-Verkehr zur Stadt. Auch einige Taxen, Merke "Warszawa" stehen am Bahnhof bereit. Am Bahnhof wurde ich von meinen Bekannten herzlich begrüßt. Mit einer Taxe sind wir zu meinen Gastgebern gefahren, die ein Einfamilienhaus am Rande der Stadt bewohnen. Innerhalb von 24 Stunden mußte ich mich persönlich auf dem Einwohnermeldeamt melden. Dann mußte ich mit zur städtischen Miliz zur Registrierung. Ein Beamter in Zivil sagte mir, es sei nicht erlaubt, Bahnanlagen und Brücken zu fotografieren. Er bat mich auch, möglichst keine öffentlichen Gebäude und Ruinen zu fotografieren. Von diesem höflichen Empfang und den sehr offenen Worten war ich sehr beeindruckt Das hatte ich in dieser Form nicht erwartet. Jetzt hatte ich zehn Tage Zeit, in denen ich sehr viel gesehen und erlebt habe. Als Besucher aus der Bundesrepublik wurde ich überall sehr höflich und zuvorkommend behandelt. An keiner Stelle stellte ich während meines Aufenthaltes einen Haß gegen die Deutschen fest.
Hauptstraßen gepflegt
Die mir sehr vertrauten Straßen meiner Heimatstadt habe ich oft kreuz und quer durchwandert. Viele Häuser in der Altstadt sind sehr reparaturbedürftig. Mir wurde erzählt, daß die Mieten in diesen Häusern so niedrig sind, daß die Besitzer nicht in der Lage sind, etwas daran machen zu lassen. Z. B. kostet die Monatsmiete in einer Altbau-Zwei-Zimmer-Wohnung dasselbe wie ein Pfund Butter. Aber ich sah auch renovierte Häuser. Die Hauptstraßen, auf denen sich der städtische Autobusverkehr abwickelt, sind in einem sehr guten Zustand. In den Nebenstraßen sieht es allerdings nicht so gut aus.
Die Stadt hat sich vergrößert. Die Außenbezirke sind sehr ausgebaut. Heute sollen rund 35 000 Einwohner in Dirschau leben. Neue Straßen mit Wohnblocks und Einfamilienhäusern sind an den Stadträndern in Richtung Baldau und Stargard sowie Schöneck und Danzig entstanden. Auch in Richtung Czattkau ist viel gebaut worden. Die meisten Neubauten allerdings ohne Verputz. Bei den Einfamilienbauten gibt der polnische Staat Anleihen zu sehr günstigen Bedingungen. Voraussetzung ist aber eine immerhin erhebliche Eigenleistung.
Preise sehr hoch
Das Leben in Polen ist zum Vergleich mit Westdeutschland sehr teuer. Es ist schwierig, einen klaren Vergleich zu ziehen, weil ganz unterschiedliche Preise gelten. Was nur ein wenig zum gehobenen Bedarf gehört, ist sehr teuer. In den Geschäften, die beinahe alle zu staatlichen Genossenschaften gehören, ist eine gute Auswahl. Die Preise sind aber so hoch, daß ich bei meinen Bekannten immer wieder gefragt habe, wer diese Dinge denn kaufen kann.
Kurz gefaßt möchte ich sagen, daß in Polen die Verhältnisse zwischen dem Verdienst und den Preisen ungefähr so sind wie in der Bundesrepublik in den Jahren 1949 und 1950. Allgemein wurde mir immer wieder erzählt; daß der Arbeiter im heutigen Polen besser lebt als vor 1939. Nicht so gut geht es den anderen Bevölkerungsgruppen.
In Dirschau gibt es keine Arbeitslosen. Mir wurde erzählt, daß rund 7000 Dirschauer täglich nach Danzig zur Arbeit fahren. Der größte Teil davon soll auf der Danziger Went arbeiten. Im religiösen Leben sah ich, daß die Gottesdienste am Sonntag überfüllt waren. Die katholische Kirche spielt im Leben der Polen eine große Rolle. Eine evangelische Kirche gibt es in Dirschau nicht mehr Die St.-Georgen-Kirche ist jetzt katholische Schulkirche.
Zur 700-Jahr-Feier
Überall konnte ich erkennen, daß große Vorbereitungen für die Dirschauer 700-Jahr-Feier im Gange sind. Die offiziellen Feiern sollen im Monat Juli stattfinden. Aufschriften auf den öffentlichen Gebäuden und auf den städt. Autobussen weisen auf dieses Ereignis hin. Es gibt viele Andenken mit Motiven zur 700-Jahr-Feier zu kaufen. In diesem Jahr 1960 begeht der polnische Staat auch die 1000-Jahr-Feier seines Bestehens. In ganz Polen sollen aus diesem Anlaß besondere Schulen gebaut werden.
Ich könnte noch sehr viel mehr berichten; denn auch Danzig, Zoppot und Gdingen habe ich besucht. Doch hiermit soll es genug sein. Herzliche Gastfreundschaft habe ich in meiner Heimatstadt Dirschau kennengelernt und ich bereue nicht die Kosten, die diese Reise in die alte Heimat mir verursacht hat.
Meinen Dirschauer Landsleuten in Westdeutschland möchte ich sagen: Dirschau ist eine Reise wert.
Gerhard Neumann