Es war eine gemischte Reisegesellschaft, die sich an einem Sonnabend im Mai 1975 vor dem Rathaus der Patenstadt Witten sammelte. Achtundzwanzig Damen und neunzehn Herren haben an dieser Studienreise nach Polen teilgenommen. Die älteste Teilnehmerin war 70 und der jüngste 30 Jahre. Die Hälfte der Reisegruppe waren Bürger aus Witten. Die andere Hälfte ehemalige Dirschauer, der größte Teil davon frühere Schüler und Schülerinnen der Dirschauer Eichendorffschule. Die Reiseleitung hatte der Chef des Wittener Kulturamtes, Herr Walter Fischer.
Als ehemaliger Dirschauer, der schon einmal im Jahre 1960 zum 700jährigen Stadtjubiläum der Weichselstadt Dirschau in Polen war, möchte ich aus meiner Sicht über diese interessante Studienreise berichten und zwar in Form von Tagebuchnotizen.
Sonnabend, den 24. Mai 1975
Um 16 Uhr Abreise mit großem Luxusreisebus vom Rathausplatz der Patenstadt Witten. Siebenundvierzig Teilnehmer. Abends gegen 21 Uhr Grenzübergang Helmstedt-Marienborn zur DDR. Ohne besondere Kontrollen. Nachts über die Autobahn, an Berlin vorbei in Richtung Stettin. Gefahren wurde der Bus von dem Fahrerehepaar Günter und Marita, die sich gegenseitig abwechselten. Es begann zu dämmern, als der Bus gegen 3.00 Uhr früh in Pommellen den Grenzübergang zur Volksrepublik Polen erreichte. Keine besonderen Kontrollen. Warten auf die polnische Reisebegleitung.
Sonntag, den 25. Mai 1975
Um 6 Uhr früh trifft die polnische Reisebegleiterin ein. Eine junge Dame, die sehr gut deutsch sprach und in der Nacht von Warschau nach Stettin gereist ist, um rechtzeitig an der Grenze zu sein. Bei strahlendem Sonnenschein Fahrt durch das nördliche Pommern. Viele blühende Rapsfelder. Bussarde und Reiher gesehen. In Stolp, jetzt Slupsk, eine Pause mit Halt auf dem Marktplatz. Ein kurzer Besichtigungsrundgang und dann Weiterfahrt über Neustadt und Gdingen nach Zoppot. Hier Ankunft um 15 Uhr. Das Hotel "Wiktor" das für die Dauer der Reise unser Quartier wurde, war eine Überraschung. Ein Haus aus der Vorkriegszeit, an dem nicht viel für die Renovierung getan worden ist. Kein Restaurationsbetrieb im Hause. Die Reisegruppe wurde aber sehr gut in einem Speiserestaurant auf der Zoppoter Hauptstraße, in der Nähe des Seesteges, verpflegt. Zehn Minuten Fußweg vom Hotel. Der Rest des Sonntags stand zur freien Verfügung und wurde von allen Teilnehmern zum Kennenlernen von Zoppot benutzt.
Montag, den 26. Mai 1975
Nach dem Frühstück sofort mit dem Bus zur ausgedehnten Besichtigung unter sachkundiger Führung durch die Altstadt von Danzig mit ihren Sehenswürdigkeiten: Marienkirche, Stockturm, Langgasse, Langer Markt, Grünes Tor, Lange Brücke, Krantor, Jopengasse, Zeughaus, Kohlenmarkt, Heumarkt usw. Der Stadtführer
machte ausdrücklich darauf aufmerksam, daß die Altstadt von Danzig im Jahre 1945 zu 90 Prozent zerstört war und Polen den Aufbau unter sehr großen Opfern vorgenommen hat. Diese Aufbauleistung in der historischen Form muß anerkannt werden. Zurück nach Zoppot zum Mittagessen.
Um 15 Uhr Busfahrt nach Dirschau über Praust und Hohenstein. Während des Krieges, im Jahre 1943, zählte Dirschau 27 000 Einwohner. Durch den Ausbau der Stadtrandgebiete ist die Einwohnerzahl auf 45 000 gewachsen. Schon in Mühlbanz, mehrere Kilometer vor der Stadt, erkennt man die neuen 12stöckigen Hochhäuser in Dirschau, die im Nordteil der Stadt, in Richtung Danzig, entstanden sind. Ausge-
dehnte Busrundfahrt durch die Straßen der Stadt. Danziger-, Goßler-, Schönecker-, Post-, Berliner Straße, rund um den Markt, dann Bahnhofstraße, an der katholischen Kirche vorbei, die Samborstraße hinunter, Schloßstraße, dann Forsterstraße hoch, durch die Langestraße, wieder Poststraße, dann links ab Stargarder Straße, am Wasserturm vorbei, Johanniterkrankenhaus, Muscate, welches sehr ausgebaut ist und bis nach Georgental reicht, links ab durch eine neue Siedlung zum früheren Kreuzweg, hier alles ausgebaut, weiter zur früheren Ziegelei Preuss, von der nichts mehr zu erkennen ist, weil ein neuer Stadtteil entstand. Zur Eichendorffschule, am früheren deutschen Sportplatz vorbei, der noch existiert, dann die Zeisgendorfferstraße hinunter, die Königsberger Straße hoch, links in die Bergstraße und zum Marktplatz. Hier am Marktplatz in Dirschau hält der Bus. Eine Pause von 17 bis 18.30 Uhr.
Der moderne Bus mit der internationalen Beschriftung erregte erhebliches Aufsehen. Für alle Reiseteilnehmer standen nun anderthalb Stunden zur Verfügung. Es bildeten sich kleine Gruppen oder Einzel-
gänger - wie auch ich - die einen Spaziergang durch die Stadt machten. Die früher so vertrauten Straßen sind mir fremd geworden. Die alten Gebäude stehen zwar noch wie vor über 30 Jahren, aber irgendwie ist mir alles fremd. Beim Besuch der alten katholischen Kreuzkirche kam ich in einen Werktagabendgottesdienst. Es war ein Montag und die Kirche voller Menschen. Zurück zum Marktplatz und um 19 Uhr Rückfahrt nach Zoppot. Abendessen im Speiserestaurant und danach zwangloses Beisammensein in verschiedenen Lokalen.
Dienstag, den 27. Mai 1975
Bei schönstem Sonnenschein sofort nach dem Frühstück Busfahrt zur Danziger Westerplatte. Eine Erinnerungsstätte an den Beginn des 2. Weltkrieges im September 1939 mit großem monumentalem Denkmal auf einem Hügel, von dem man einen einmaligen Ausblick auf die Hafenanlagen und die Stadt Danzig mit Umgebung hat. Dann zurück nach Oliva. Teilnahme an einem festlichen Orgelkonzert im überfüllten Dom. Anschließend nach Zoppot, die ganze Reisegruppe besucht den Seesteg. An der Spitze ein Erinnerungsfoto mit "Grand Hotel" als Hintergrund. Danach zum Mittagessen.
Der Nachmittag stand zur freien Verfügung und wurde wohl ganz unterschiedlich verbracht. Einige Reiseteilnehmer sind mit Taxis in die ländliche Umgebung gefahren. Andere mit der Schnellbahn nach Danzig oder Dirschau, zum Teil, um persönliche Bekannte zu besuchen. Überall herzliche Gastfreundschaft.
Mittwoch, den 28. Mai 1975
Sofort nach dem Frühstück Beginn der großen Busrundfahrt durch einen Teil von Masuren und das Ermland. Bei Käsemark über die neue Weichselbrücke. In der Niederung auf den Wiesen große Rinderherden. Weiter an Elbing vorbei in Richtung Osterode. Wenig Verkehr auf den Straßen, die in bestem Zustand sind. In Osterode eine Pause zur Besichtigung. Dann weiter nach Allenstein zur Besichtigung und vorher Mittagessen. Das Schloß mit seinen Anlagen ist ein Museum, in erster Linie zur Erinnerung an den großen Astronomen Copernicus. Der Stadtkern ist in historischer Form wiederaufgebaut. Man sieht viele Baustellen, überall wird gearbeitet.
Weiterfahrt in Richtung Frauenburg. Unterwegs auf einem Feld eine Gruppe von sieben Störchen. In Frauenburg, welches sehr zerstört gewesen sein soll, ist zu erkennen, daß gerade hier mit viel Liebe aufgebaut wurde. Besichtigung des Domes, der Wirkungsstätte des berühmten Nicolaus Copernicus. Dann Rückfahrt durch Elbing mit seinen vielen Neubauten und späte Ankunft in Zoppot.
Donnerstag, den 29. Mai 1975
Ein Tag mit besonderen Erlebnissen für die ehemaligen Dirschauer, aber auch für die Gäste aus der Patenstadt Witten. Tagesfahrt mit Lunchpaket nach Dirschau, Mewe, Pelplin und Marienburg.
Zuerst nach Dirschau. Es war F ronleichnam, ein großer Feiertag im katholischen Polen. Bei schönstem Sonnenschein machte der Bus Halt an der Weichselpromenade hinter Zeisgendorf, in der Nähe des Grenzgrabens, für ein Gruppenfoto mit den Weichselbrücken als Hintergrund zur Erinnerung. Dann weiter über Czarlin und Subkau nach Mewe. Unterhalb des Mewer Schlosses eine große Picknickpause mit deutschem Faßbier, welches Günter Prass vorsorglich aus Deutschland mitgenommen hatte. Besuch von vielen polnischen Kindern und Gästen, die das gute Bier besonders lobten.
Weiterfahrt nach Pelplin zur Besichtigung des Domes und der berühmten Gutenbergbibel, die im Sommer 1939 vor dem Beginn des Krieges nach Kanada ausgelagert war. Die Bibel befindet sich jetzt in einem Panzerschrank im Seminar. Führung im Dom durch einen jungen polni-
schen Geistlichen und den Rektor des Seminars, einem Jugendfreund unseres verehrten Professors Dr. Manthey, der 1971 in Hildesheim verstorben ist. Sehr guter Kontakt zu unserer Reisegruppe. Es wurden viele bekannte Namen ausgesprochen. Der junge Geistliche, den ich nach den Ereignissen des Herbstes 1939 in Pelplin fragte - am 20. Oktober 1939 wurde fast das gesamte Pelpliner Domkapitel in den Dirschauer Kasernen umgebracht - antwortete mir wörtlich: Bitte, Herr, das ist doch Geschichte. Zu der Zeit habe ich noch nicht gelebt. Darüber habe ich nur gelesen und erzählen gehört. Natürlich war das furchtbar. Aber das ist Vergangenheit und wir Polen schauen in die Zukunft.
l Deutsche und Polen sind seit mehr als tausend Jahren Nachbarn und werden es auch! in der Zukunft sein. Wir möchten alles
tun, damit sich solche schlimmen Dinge; niemals wiederholen. Diese Vergangenheit ist natürlich noch ein Problem der Großväter und der älteren Väter. Aber die Jugend in Polen denkt anders. Wir sind hier geboren und es ist unser Vaterland, auf das wir stolz sind. Unter großen Opfern wurden die Zerstörungen des Krieges wieder aufgebaut. Es ist noch viel zu tun. Aber niemals wieder Krieg. Weiter sagte der junge polnische Geistliche, daß er daran I glaubt, daß auch in der Bundesrepublik
Deutschland die große Mehrheit der jungen Deutschen genauso denkt wie die jungen Polen. Durch Kenntnis der polnischen Sprache konnte ich ähnliche Gespräche mehrfach führen.
Problematisch sind die Dinge bei den älteren Leuten in Polen. Besonders bei den Menschen über 70 Jahren, die zum größten Teil nur sehr kleine Renten erhalten und die zusehen müssen, daß sie etwas hinzuverdienen oder sonst irgendwie durchkommen.
Vielleicht war dieser Besuch im Pelpliner Dom für einige Reiseteilnehmer das besondere Erlebnis dieser Studienreise. Nach zweistündigem Aufenthalt in Pelplin zurück über Subkau und Czarlin, dann über die Weichselbrücke nach Marienburg zur Besichtigung der Burganlage, die ganz besonders für die Reiseteilnehmer aus. Witten eine Attraktion war. Späte Rückkehr nach Zoppot.
Freitag, den 30. Mai 1975
Start zur Rückreise. Diesmal die Strecke Danzig - Dirschau - Neuenburg Schwetz - Bromberg - Gnesen nach Posen. Hier drei Stunden Aufenthalt zur freien Verfügung. Abends Rückreise über den Grenzübergang Frankfurt/Oder. Die sympathische polnische Reisebegleiterin hatte sich schon in Posen verabschiedet. An der Grenze einige kleine Mißverständnisse mit dem polnischen Zollbeamten, der es sehr genau machen wollte. Nach einer Unterhaltung mit ihm in seiner Landessprache wurde es dann eine sehr großzügige Abfertigung. Nach flotter Nachtfahrt, mit kurzer Unterbrechung in MarienbornHelmstedt zur Grenzabfertigung - auch hier ohne besondere Kontrollen - zum Hauptbahnhof Hannover für das Aussteigen der Gäste aus dem norddeutschen Raum. Weiter über die Autobahn mit einer kurzen Rast in einer Raststätte. Ankunft in Witten vor dem Rathaus, am Sonnabend, dem 31. Mai, um 8.30 Uhr.
Diese erlebnisreiche Reise, es war genau eine Woche, die insgesamt zurückgelegte Strecke war rd. 3500 km lang, dürfte allen Teilnehmern noch lange in guter Erinnerung bleiben. Es gab keine Pannen. Herzlichen Dank der Volkshochschule der Patenstadt Witten für die Vorbereitung und gute Durchführung dieser Reise in die alte Heimat. Dank auch dem Fahrerehepaar Günter und Marita, die diese weite Strecke so vorbildlich gefahren sind.
Nach dieser großen Reise in die alte Heimat werden es manche Teilnehmer vielleicht besonders zu schätzen wissen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland leben. Vor 15 Jahren schrieb ich zum Abschluß meines damaligen Berichts über meine Reise nach Dirschau: ,,Dirschau ist eine Reise wert." Jetzt sollte dieses Wort erweitert werden. "Polen ist eine Reise wert", und zwar aus verschiedenen Gründen.
Gerhard Neumann