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 Dirschauer Bote. Nr. 34                            Witten, im März 1979


 1939 und 1959, denkwürdige Jahreszahlen für alle Dirschauer

Vor 40 Jahren, der Kriegsbeginn am 1. September 1939 mit der Sprengung der beiden großen Dirschauer Weichsel-
brücken durch polnische Soldaten und die danach folgenden Ereignisse.

Zwanzig Jahre später das Jahr 1959 mit der Übernahme der Patenschaft über die in der Bundesrepublik ansässig ge-
wordenen Vertriebenen aus Stadt und Kreis Dirschau durch die Stadt Witten an der Ruhr.

Zuerst das Jahr 1939. In der Nachkriegsliteratur gibt es zahlreiche sich widersprechende Versionen über den Ablauf des
deutschen Handstreichs auf die Dirschauer Weichselbrücken.
Inzwischen konnten die bisher erschienenen Darstellungen von deutscher und polnischer Seite durch weitere Quellen ergänzt
und korrigiert werden. In einer gekürzten Zusammenfassung soll der Ablauf des Geschehens geschildert werden.

Der lange vor dem Kriegsbeginn mit Polen und mit Beteiligung höchster deutscher Stellen vorbereitete Handstreich zur un-
versehrten Inbesitznahme der beiden großen Brücken über die Weichsel scheiterte an der Wachsamkeit polnischer Eisenbahner.

Nach der Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrages, im Frühjahr 1939 durch Adolf Hitler, erteilte der
"Führer" am 3. April 1939 der deutschen Wehrmacht den Auftrag, im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung
mit Polen so vorbereitet zu sein, daß die polnische Wehrmacht in kürzester Zeit ausgeschaltet werden könne.

Die Planung der Angriffsführung mußte von vornherein Geländeteile und Objekte berücksichtigen, die durch ihre Lage
von besonderer operativer Bedeutung waren. Im Operationsgebiet der deutschen Heeresgruppe Nord waren die beiden
großen Dirschauer Brücken über die Weichsel - die von 1850 bis 1857 erbaute Straßenbrücke und die von 1890 bis
1891 erbaute Eisenbahnbrucke - beide je rd. 1000 Meter lang - die neuralgischen Punkte.

Um diese Brücken zu erreichen, mußten 18 Kilometer Strecke durch das Gebiet des Freistaates Danzig durchquert werden.
Die Eisenbahn- und Zollhoheit in diesem Gebiet hatte die Republik Polen. Die Bahnhöfe auf der Strecke von Marien-
burg bis zum Beginn der Weichselbrücken bei Dirschau - Kalthof, Simonsdorf und Liessau - waren mit polnischem
Personal besetzt. Die Bevölkerung in diesem Gebiet bestand zu fast 100 Prozent aus Deutschen.

Die polnische militärische Führung war sich der strategischen Bedeutung der Brücken voll bewußt und hatte entsprechende
Vorkehrungen getroffen. Der Liessauer Brückenkopf war stark befestigt. Dem in Dirschau stationierten 2. polnischen
Schützenbataillon war ein Spezial-Pioniertrupp beigegeben, der den Auftrag hatte, die Zerstörung der Brücken im Falle
eines Krieges mit Deutschland sicherzustellen. Die Führung dieses Pioniertrupps hatte ein Leutnant namens Juchtmann.

Zwei Monate vor Ausbruch des Krieges bekam Leutnant Juchtmann von seinem Oberkommando den Auftrag, die
Minenkommem und Brückenpfeiler mit 10 Tonnen Sprengstoff zu füllen. Eine für damalige Verhältnisse außerge-
wöhnliche Menge.

Der deutschen Abwehr wurden diese Vorbereitungen durch Vertrauensleute bekannt.

Welche vorrangige Bedeutung den Dirschauer Brücken von höchster deutscher Stelle eingeräumt wurde, geht aus vie-
len Dokumenten hervor. Wie sehr Hitler sich persönlich mit dem Vorhaben zur Inbesitznahme der Brücken beschäftigt
hat, geht aus den Eintragungen des deutschen Generalstabchefs Halder in sein Kriegstagebuch hervor. Am 14. August
1939 sowie am 16., 17. und 18. August ließ Hitler über Dirschau weiter vortragen.

 

Am 23. August 1939 befahl das Oberkommando der Wehrmacht: . . .

"Brücke Dirschau.

Die verantwortliche Leitung des Unternehmens bleibt bei b. d. H. Schwerpunkt des Überfalles liegt zunächst bei
der Luftwaffe, in dem zusammengefaßten Einsatz gegen die Zündstellen, Zündkabel und Stromquellen. Anschlie-
send setzen sich die bereitgestellten Teile des Heeres in den Besitz der Brücke. Der Führer wünscht nicht, daß
hierzu die Brücke mit Zügen befahren wird, solange noch die Gefahr einer Sprengung besteht.

Wenn die Wetterlage den Einsatz der Luftwaffe ausschließt, handelt Ob.d.H. nach eigenem Plan, aber unter Wah-
rung des festgesetzten Zeitpunktes."

Am 25. August 1939 erfolgte der erste, jedoch am gleichen Tage widerrufene Angriffsbefehl für Sonnabend, den 26.
August, 4.30 Uhr.

Nach dem Widerruf erfolgte sechs Tage später, für Freitag, den 1. September 1939, der endgültige Befehl, der den
zweiten Weltkrieg auslöste. In diesen sechs Tagen spielten sich auch in Dirschau viele Vorfälle ab, unter denen die
deutsche Minderheit besonders zu leiden hatte. Das mag in einem indirekten Zusammenhang mit den von den Polen er-
kannten deutschen Angriffsvorbereitungen am 25./26. August gestanden haben. Die Wachsamkeit an den Brücken war er-
heblich verschärft worden.

Mit der Durchführung des Unternehmens zur Inbesitznahme der Dirschauer Weichselbrücken war Oberst Medem, der
Pionierkommandeur des in Königsberg befindlichen I. Armeekorps, beauftragt. Ihm unterstanden entsprechende Trup-
penteile, ein Panzerzug sowie eine Gruppe Sturzkampfflugzeuge. Für die Ausschaltung der polnischen Bahnstationen
auf dem Danziger Gebiet war das Sonderkommando "Post" der Abwehr zuständig, welches überwiegend aus ortskun-
digen Freiwilligen bestand, die zum großen Teil der SA des Freistaates Danzig angehörten.

Die vorgesehenen Besatzungen der Sturzkampfbomber sind mehrmals mit dem Transit D-Zug Berlin-Königsberg über
die Brücke gefahren und konnten dabei feststellen, daß die Zündleitungen für die Brückensprengung an der Süd-
seite des Bahndammes zwischen Bahnhof und Brücke verliefen. Ihr Auftrag lautete, die dicht neben dem Bahn-
hof liegenden Zündstellen zu treffen, um die vorbereiteten Sprengungen zu verhindern. Die Luftwaffe aber sollte
die Polen generell niederhalten, bis Oberst Medem die Brücken in Besitz hatte.

Gegenüber der Angriffszeit - 4.30 Uhr vom 26. August - wurde die Zeit für den 1. September um 15 Minuten spater,
auf 4,45 Uhr gelegt. Diese Zeitänderung kann wesentlich zum Mißlingen des Handstreichs beigetragen haben, denn
polnische Eisenbahner in Simonsdorf wurden durch "nicht-fahrplanmtißige" Zugverspätungen mißtrauisch.

Die Durchführung des Unternehmens erfolgte in enger Zusammenarbeit mit der Luftwaffe und der Abwehr. Es lag
ein minutengenauer Plan vor, der aber nicht genau eingehalten werden konnte.

Der Plan knüpfte an die übliche Zusammenarbeit der Bahnverwaltungen an. Dem polnischen Bahnhof in Dirschau wur-
de von Marienburg der Transitgüterzug Nr. 963 - der eigens für diesen Zweck mit 65 Güterwagen in einer Gesamtlänge
von 600 Metern zusammengestellt war - als Leerzug zur Abholung angeboten. In diesem Zug befanden sich die
Pioniere, die auf der Brücke die Pfeiler besetzen und die Sprengladungen entschärfen sollten.

Das polnische Personal der Abhollokomotive wurde in Marienburg überwältigt und durch deutsches Personal in pol-
nischen Eisenbahnuniformen ersetzt, die den Zug weiterzuführen hatten.

Ein Teilnehmer des Unternehmens berichtet:

 "Die erste Kompanie des Pionierbatoilions 41 fuhr mit zwei deutschen Eisenbahnern in polnischen
Dienstuniformen auf der Lokomotive im Güterzug von Marienburg ab, "wurde in Simonsdorf kurz angehalten"
und fand in Liessau die Einfahrt zur Brücke nach Dirschau geschlossen, die Gleise mit einer Schienen-
sperre gesperrt, während die ersten Bomben auf Dirschau Fielen. Aus dem Liessauer polnischen Brücken-
kopf erhielt der stehende Zug Feuer. Es gab die ersten Verluste. Die Kompanie fand am Bahndamm zuerst
Deckung. Der folgende Panzerzug wurde durch die Länge des Güterzuges (600 Meter) behindert und
konnte erst nach Umrangieren freies Schußfeld bekommen. Um 6. 10 Uhr (also eine Stunde und 25
Minuten nach Beginn der Feindseligkeiten ) sprengten die Polen den Liessauer Brückenkopf und zogen sich
auf das Westufer zurück, wo sie um 6.40 Uhr die Brücke über die Weichsel und den Brückenkopf Dir-
schau sprengten."

Die Frage, warum die Polen in Erwartung eines fahrplanmässigen Güterzuges die Einfahrt auf die Brücke geschlossen
und die Strecke blockiert haben, geht auf die Wachsamkeit der polnischen Beamten des Bahnhofs Simonsdorf zurück.
Über die Geschehnisse auf diesem Bahnhof heißt es in einem Abschlußbericht der Abwehr:

"Das Hochnehmen erfolgte an allen Stellen planmäßig. Da sich auf dem Bahnhof Simonsdorf verschiedene Polen
zur Wehr setzten und die Nachrichtenapparate etc. bedienen wollten, mußte scharf zugepackt werden. 15
Gefangene, davon 6 Verwundete und 20 Tote."

 

In einem polnischen Artikel, der 28 Jahre nach diesen Ereignissen erschienen ist, heißt es:

"... dem planmäßigen Güterzug folgte ein zweiter: ein Panzerzug. Doch Zöllner und Eisenbahner ent-
deckten die Arglist und lenkten den Panzerzug auf ein Nebengleis. Gleichzeitig schoß der Leiter der
Zollstelle, Stanislaw Szarek, aus dem Fenster der Stationswohnung eine rote Rakete als Warnsignal für
den Militärposten an der Dirschauer Brücke ab. Kurz darauf sank Szarek über den Fenstervorsprung, durch-
löchert von einer Karabinersalve. Es gelang, die Brücke zu sprengen, und der Panzerzug konnte sie
nicht besetzen. Jetzt begann ein Gemetzel. Die diensttuenden Eisenbahner kamen ums Leben; ebenso
kamen die um, die in den Wohnräumen schliefen. In dieser tragischen Nacht vom 31. August auf den 1.
September 1939 starben 20 Menschen."

Soweit die polnische Darstellung.

Allen Publikationen ist die Auffassung gemeinsam, durch die Fehlleitung des Güterzuges und des Panzerzuges in
Simonsdorf sei ein Zeitverlust eingetreten, der das Unternehmen zum Scheitern verurteilt und eine Racheaktion
auslöste, der 20 Menschenleben zum Opfer fielen.

Nach dem mißglückten Handstreich griff Oberst Medem nach Umgliederung seiner Kräfte über die Weichsel hinweg an,
um einen Brückenkopf zu bilden, während Teile der "SS Heimwehr Danzig" Dirschau von Norden angriffen. Erst gegen
Mittag gelang das Übersetzen von Flößen. Ein zweiter Luftangriff unterstützte gegen Abend das von Norden her angrei-
fende "SS Heimwehrbataillon". Gegen Abend wurde in Dirschau noch gekämpft. Die Stadt wurde erst am 2. Septem-
ber um 5.30 Uhr genommen.

Die am ersten Kriegstage geflohene polnische Bevölkerung kehrte im Laufe des Monats September wieder in die Stadt
zurück. Eine deutsche Verwaltung begann mit ihrer Arbeit. Die Bevölkerung wurde in Volkslistengruppen eingeteilt.
Wer nicht zu den Volkslisten 1 bis 3 gehörte, wurde umgesiedelt und in das damalige Generalgouvemernent abgeschoben.

Nebenher ging die Liquidierung der polnischen Intelligenz. Besonders tragisch für die polnische Bevölkerung wurden die
Monate Oktober und November 1939. Die Mehrheit der einheimischen deutschen Bevölkerung hat von den wahren Ge-
schehnissen und den Morden nichts erfahren. Das blieb geheim. Es hat nur geheißen, daß die Nationalpolen umge-
siedelt wurden oder in das Lager Stutthof kamen.

Erst nach dem Kriege wurden die Tatsachen bekannt. In der Schriftenreihe "Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte" Nr. 2
von 1961, herausgegeben von der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, wird über die "Nationalsozialistische Polenpoli-
tig 1939 - 1945" auf Seite 45 berichtet:  

"Von der Diözese Kulm/Pelplin sind nachweislich in den Monaten Oktober/November 1939 214 Geistliche
ermordet worden, darunter fast das gesamte Peipliner Domkapitel. Westpreußen sei damals der Hauptschauplatz
besonders radikaler Polenverfolgungen gewesen. Die Danziger Parteiorganisation hatte sich schon viele
Wochen vor dem Polenfeldzug auf die "Abrechnung" mit den Polen vorbereitet."

Zum Schluß der Dokumentation schreibt der Verfasser:

"Hier zerstörte die einfallslose Gewaltsamkeit Ansätze und Möglichkeiten einer wenigstens einiger-
maßen annehmbaren Gestaltung deutscher Besatzungspolitik. Sie verwirtschaftete auch den historischen
Rechtsgrund deutscher Stellung im Osten."

Die tragischen Ereignisse, die im Frühjahr 1945 und danach die deutsche Bevölkerung in unserer Heimat getroffen haben,
hatten ihren Ursprung im Herbst 1939. Das liegt jetzt 40 Jahre zurück und gehört für die weitaus überwiegende Mehr-
heit der deutschen Bevölkerung zur Zeitgeschichte, die sie nicht selbst erlebt hat. Zeugen dieser Zeit leben noch unter
uns.

Quellennachweis: Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Verlag Rombach,
Freiburg 1971, und andere.

  

                                                            Gerhard Neumann

 

 [Dirschauer Bote Nr. 34. Witten im März 1979. S. 36-44 (Mitteilungsblatt des Heimatkreises Dirschau)]