Bauwerke sind das Produkt aus Gestaltungswillen und Ingenieurkunst. Aus dem kreativen Dialog von Architekten und Ingenieuren erstehen beispielhafte Entwürfe und außergewöhnliche Konstruktionen, die als "Ausrufezeichen der Architektur" besondere Entwicklungsschritte der Baukunst markieren. Unsere Serie stellt in loser Folge einige der Höhepunkte bauingeniösen Schaffens vor und beleuchtet ihre konstruktiven Details. Heute: die Alte Dirschauer Weichselbrücke, verbunden mit den Ingenieuren Carl Lentze und Rudolf Eduard Schinz.
Heute kann man kaum noch nachempfinden, wie beschwerlich das Reisen mit Kutschen und Fuhrwerken zu Beginn des 19. Jahrhunderts war. Mit der Eisenbahn - in England ab 1825 und in Deutschland ab 1835 - trat ein neues Verkehrsmittel auf den Plan, das hinsichtlich Geschwindigkeit, Bequemlichkeit und Kosten einen regelrechten Quantensprung darstellte. Somit kam es in den Folgejahren zu einem ausgesprochenen Boom des Eisenbahnbaus, vielfach, so auch in Preußen, getragen von privaten Investoren. Schon Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts plante die preußische Regierung aus Gründen der Wirtschaftsförderung in den Ostprovinzen und aus militärischer Sicht den Bau einer Eisenbahnverbindung von Berlin nach Königsberg. Für diese sogenannte Preußische Ostbahn fanden sich wegen der bei diesem Projekt vermuteten geringen Gewinnaussichten keine privaten Geldgeber, so daß der Bau vom Staat in eigener Regie durchgeführt werden mußte. Zwei für die damalige Zeit außergewöhnliche Großbrücken wurden erforderlich: Eine zur Überquerung der Weichsel in Dirschau (heute Tczew in Polen) und eine kürzere Brücke zur Überquerung der Nogat bei Marienburg (polnisch Malborg). Mit dem Entwurf und der Leitung der Brückenprojekte wurde 1844 der Oberbaurat Carl Lentze beauftragt, der sich bis dahin vorwiegend bei Wasserbauprojekten im Rheinland bewährt hatte.
Folgerichtig ging Lentze zuerst auf eine Informationsreise, um Erfahrungen in den damals im Brückenbau führenden Ländern Frankreich und Großbritannien einzuholen.
Wegen des alljährlichen winterlichen Eisgangs galt der Bau einer festen Brücke über die Weichsel als riskant, wenn nicht als undurchführbar. So gab es in Dirschau bis dahin nur eine bescheidene Pontonbrücke, die bei Hochwasser und Eisgang immer wieder abgebaut werden mußte. Lentze war sich daher bewußt, daß hier nur Brückenbauwerke mit großen Spannweiten Erfolg bringen konnten, die den Durchflußquerschnitt möglichst wenig einengten. So plante er in Dirschau zunächst den Bau einer Hängebrücke. Auch wurde eine Zeitlang ernsthaft darüber diskutiert, die Brücke nicht für die schweren Lokomotiven auszulegen. Man wollte nur die Waggons über die Brücke ziehen.
Als die begonnenen Bauarbeiten an der Ostbahn 1847 wegen finanzieller Engpässe des preußischen Staats und wegen der Unruhen im Vorlauf des Revolutionsjahrs 1848 unterbrochen wurden, nutzte Carl Lentze die Zeit zu einer zweiten Informationsreise nach Großbritannien, wo er die Baustelle der Britannia-Bridge in Wales besuchte. Hier wurde erstmalig eine Eisenbahnbrücke als eiserne Balkenbrücke mit für die damalige Zeit gigantischen Spannweiten von 140 Metern errichtet, ein überaus innovatives Baugeschehen, das international mit Spannung verfolgt wurde.
Nach seiner Rückkehr entschloß sich Lentze, in Dirschau und Marienburg ebenfalls weitgespannte Balkenbrücken zu errichten. Sie galten wegen ihrer größeren Steifigkeit und den deshalb geringeren Durchbiegungen als vorteilhafter für den Eisenbahnverkehr mit seinen hohen Lasten und Geschwindigkeiten. Während aber die 1850 erfolgreich fertiggestellte Britannia Bridge als sogenannte Tubular Bridge (Röhren-Brücke) Kastenträger mit vollwandigem Querschnitt aufwies, wählte Lentze für die Brücken der Ostbahn aufgelöste Träger mit feinmaschigen Gitternetzen, und zwar in Dirschau mit sechs Öffnungen von je 131 Meter Spannweite. Bei dieser Entscheidung mag die Besichtigung der im Bau befindlichen, allerdings nur 43 Meter weit gespannten Royal Canal Bridge der Dublin-Belfast-Eisenbahn während der ersten Informationsreise eine Rolle gespielt haben.
1851 war es dann soweit: Im Rahmeneiner feierlichen Veranstaltung legte der preußische König Wilhelm IV. am Dirschauer Widerlager den Grundstein für die neue Brücke. Danach begann man mit den Gründungsarbeiten für die Unterbauten. Um die erforderliche Gesamtlänge der Brücke zu beschränken, wurde das rund 1000 Meter breite Flutgelände der Weichsel am östlichen Ufer örtlich durch Deichbauten eingeengt.
Die statische und konstruktive Berechnung der weitgespannten Gitterträger erforderte ein spezielles und vertieftes Ingenieurwissen, das damals noch keineswegs Allgemeingut war - und das Lentze selbst nicht besaß. Es gelang ihm aber, mit Eduard Schinz einen überaus tüchtigen Schweizer Ingenieur zu gewinnen, der die notwendigen Kenntnisse mitbrachte. Er schuf mit seinen Berechnungen und Detailkonstruktionen die Grundlagen für das Gelingen der Brückenüberbauten, an denen sich noch heute die ausgezeichneten Fähigkeiten dieses Ingenieurs deutlich ablesen lassen. Zum Beispiel berechnete Schinz für die sechs jeweils paarweise zu Durchlaufträgern gekoppelten und damit statisch unbestimmten Zweifeldträger genaue Biegelinien, die sich nach dem Entfernen des Montagegerüsts an den ersten zwei bereits fertiggestellten Feldern auch tatsächlich einstellten. Leider war es Schinz nicht vergönnt, diesen Triumph zu erleben, denn er starb 1855 nur Tage vor diesem Großereignis an einem Schlaganfall.
Als Material wurde Schmiedeeisen verwendet, das zur damaligen Zeit in den Hütten noch recht mühsam mit dem Puddelverfahren hergestellt werden mußte.
Das eingesetzte Eisen hat einen hohen Phosphor- und Stickstoffgehalt, was die Qualität des Eisens zwar mindert, aber eine geringere Korrosionsanfälligkeit bewirkt. Dies ist ein Grund für den verhältnismäßig guten Zustand der Brücke.
Der Bau der Alten Weichselbrücke erfolgte zwar durch die preußische Regierung; er war aber durch die Informationsreisen Lentzes nach Frankreich und Großbritannien und durch die Ausbildung von Schinz an den damals führenden Hochschulen in Paris eingebunden in die europäische Entwicklung des Brückenbaus. Als 1857 die ersten Züge die Dirschauer Brücke passierten, galt dieses Bauwerk bereits als wahrer Meilenstein in der Geschichte des Ingenieurbaus. Folgerichtig wurde diese Pionierleistung ein Vorbild für eine große Zahl von Brückenbauwerken, so auch für die erste Eisenbahnbrücke über den Rhein in Köln. Diese wurde erst 1859, also zwei Jahre später als die Dirschauer Brücke, fertiggestellt und hatte nur eine Spannweite von 105 Metern.
Die Alte Dirschauer Brücke war sowohl für den Eisenbahn- als auch für den Straßenverkehr mit Fuhrwerken eingerichtet. Das Eisenbahngleis war dazu zwischen zwei hölzerne Bohlenfahrbahnen eingebettet. Natürlich mußte die Brücke vor jeder Zugfahrt rechtzeitig gesperrt werden. In den folgenden Jahrzehnten nahm der zunächst spärliche Eisenbahnverkehr stark zu, so daß für den Straßenverkehr allmählich unerträgliche Zustände entstanden. Infolgedessen entschloß man sich zum Bau einer zweiten Brücke, die von 1888 bis 1891 als reine zweigleisige Eisenbahnbrücke in 40 Meter Abstand neben der alten Brücke gebaut wurde, die daraufhin ausschließlich für den Straßenverkehr zur Verfügung stand.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwangen schwere Uberflutungen zu einer Neuregulierung der Abflüsse von Weichsel und Nogat. Dabei mußte auch die künstliche Einengung der Weichsel bei Dirschau wieder rückgängig gemacht werden. Danach (von 1910 bis 1912) war es notwendig, beide Brücken durch jeweils drei Felder mit einfachen, parallelgurtigen Fachwerken um etwa 250 Meter zu verlängern. In dieser Konfiguration überdauerten die Brücken unbeschadet die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg.
Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gehörten die Brücken zu Polen. Als im Sommer 1939 die Gefahr eines deutschen Überfalls auf Polen wuchs, wurde von der polnischen Armee die Sprengung beider Brücken als Verteidigungsmaßnahme vorbereitet, was der deutschen Seite bekannt wurde. Als in den frühen Morgenstunden des 1. Septembers 1939 der deutsche Angriff auf Polen begann, versuchte die deutsche Wehrmacht, die Brücken mit einem handstreichartigen Unternehmen unzerstört in die Hand zu bekommen. Diese Aktion mißlang. Die Brücke wurde nach einigen Kämpfen gesprengt, und jeweils drei Felder der Brücken von 1857 und 1891 wurden zerstört. Militärhistorische Untersuchungen haben ergeben, daß der Beginn der Aktion gegen die Dirschauer Brücken möglicherweise die allerersten Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs waren. Damit ist die Alte Dirschauer Weichselbrücke auch ein zeitgeschichtliches Mahnmal, das an den Beginn dieses schrecklichen Kriegs erinnert.
Die im Originalzustand von 1857 erhaltenen drei Felder der Alten Weichselbrücke stellen darüber hinaus ein wahrlich einzigartiges technisches Denkmal des frühen Ingenieurbaus dar, denn dieses Bauwerk war die erste Brücke dieser Art und Größe auf dem europäischen Kontinent. Nachdem die Britannia Bridge in Wales in jüngerer Zeit durch ein modernes Tragwerk ersetzt wurde, sind die auch heute noch imponierenden Gitterträger in Dirschau (Tczew) das älteste noch existierende Beispiel einer solchen eisernen Großbrücke überhaupt. Es sollte eine europäische Aufgabe sein, Polen bei der Erhaltung dieser einmaligen Bausubstanz zu unterstützen.
studierte nach dem Besuch des Gymnasiums in Soest unter anderem bei Carl Friedrich Schinkel an der Berliner Akademie der Künste.
Nach mehreren Studien und Bildungsreisen trat er in den Staatsdienst ein; 1829 bestand er die Baumeister Prüfung. 1844 wurde er mit ersten Entwürfen für die Überführung der Königlichen Ostbahn über die Weichsel beauftragt. Im Jahr darauf wurde er Mitglied der Königlichen Commission für den Bau der Weichsel und Nogatbrücken.
Unter seiner Leitung erfolgten später die Vorarbeiten für den Nord Ostsee Kanal. Preußen entsandte ihn danach in die internationale Commission für den Bau des Suez Kanals nach Paris.
studierte in seiner Heimatstadt Zürich an der neugegründeten Industrieschule. Von 1830 an erhielt er in Paris als Externer an der École Polytechnique und der École des Ponts et Chaussées seine Ingenieurausbildung. Nach einigen Arbeitsjahren in der Schweiz ging er ins Ausland und fand bei verschiedenen Eisenbahn-gesellschaften breitgefächerte Ingenieuraufgaben. Im Frühjahr 1850 gelang es Carl Lentze, diesen fähigen Ingenieur für den Bau der Weichsel und Nogatbrücken zu gewinnen.
Die statische Berechnung der eisernen Überbauten erforderten Mut und Verantwortungsbereitschaft. Diese Arbeiten wurden zum Höhe und Glanzpunkt dieses Ingenieurlebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 196. Seite T 6 - Technik und Motor