Beeindruckend: 91-Jähriger KZ-Überlebender berichtet
Stéphane Hessel traf Schüler des Scharrer-Gymnasiums im Doku-Zentrum
NÜRNBERG - 20 Schüler der 13. Klasse des Johannes-Scharrer-Gymnasiums trafen mit ihrer Geschichtslehrerin Elke Mahler im Doku-Zentrum den Überlebenden des KZ Buchenwald, Stéphane Hessel, zu einem Zeitzeugengespräch. Moderiert hat es Helga Brandstätter vom KuF. Hessel nimmt gegenwärtig an einer internationalen Menschenrechtskonferenz der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft in Nürnberg teil.
Ein Mann wie Stéphane Hessel fordert praktisch dazu heraus, mit ihm zurückzuschauen auf die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Er kam 1917 in Berlin zur Welt, wanderte schon 1924 mit seiner Familie nach Paris aus, wurde dort 1944 von der Gestapo verhaftet, überlebte anschließend das KZ Buchenwald und arbeitete nach dem Krieg engagiert für die Uno und den Schutz der Menschenrechte. Mit einem historischen Rückblick hält sich der 91-Jährige dennoch nicht lange auf.
Richtigen Schlüsse ziehen
«Natürlich ist es wichtig die Geschichte zu kennen«,» sagt er den Nürnberger Gymnasiasten nach einem Rundgang durch die Ausstellung im Doku-Zentrum, «hier kann man den Schrecken der Katastrophe des Dritten Reiches nachempfinden.» Hessel lässt aber keinen Zweifel daran, dass es noch wichtiger ist, die richtigen Schlüsse aus diesen Ereignissen zu ziehen. Vor allem will der Franzose den Jugendlichen das mit auf den Weg geben, was er in seinem aufregenden, gefahrvollen und geglückten Leben, wie er selbst sagt, gelernt hat.
So macht Hessel nur ein paar Bemerkungen über die barbarischen Verhältnisse im KZ. Unter den Häftlingen habe es auch Egoismus und Rücksichtslosigkeit aus Verzweiflung gegeben, aber viel größer war die Solidarität. So habe ihm ein britischer Mitgefangener das Leben gerettet, weil es diesem auf verschlungenen Wegen gelungen war, ihm die Identität eines bereits Getöteten zu verschaffen.
Dann aber holt Hessel aus: »Wir Überlebenden haben verstanden, wie wichtig es ist, mit Gleichgesinnten zusammen zu sein, wie wichtig es ist, nicht allein zu sein, um etwas zu erreichen.« Es habe im Lager immer die Gefahr bestanden, dass man sich angesichts schlimmster Verbrechen »völlig in sich selbst zurückzieht« und von den anderen nichts mehr wissen will. »Für mich war klar: Wenn das passiert, ist dies ein Zeichen, dass man sterben will.«
Angst und Mut
Eindrücklich beschreibt er auch die tiefe Angst, die ihn und seine Leidensgenossen in den letzten Kriegsmonaten befallen hat: »Ich kam im Juli 1944 nach Buchenwald und wir hatten das Gefühl, dass es bis zum Sieg der Alliierten nicht mehr lange dauern kann.« Die Häftlinge befürchteten allerdings, die Nazis würden sie nicht als Zeugen am Leben lassen, wenn sie geschlagen sind. »Wir dachten, das Brot ist vergiftet oder wir werden jeden Moment erschossen.«
Die Todesfurcht konnte bei Stéphane Hessel aber nie den Mut besiegen. Das will er den Schülern in erster Linie mitgeben: »Die Angst war da, man konnte sterben in diesem Krieg, aber wir wussten, das wir ihn nicht verlieren durften. Es ist wichtig, immer weiter zu kämpfen.« Diese Entschlossenheit ist für den 91-Jährigen kein Relikt aus der Zeit vor 1945. Er macht seinen jungen Zuhörern klar, dass sie heute mit dem gleichen Mut ihre eigenen »Kriege« bestehen müssen, die gegen Umweltzerstörung, Armut oder die Ungerechtigkeit.
Man müsse sich vor Augen halten, wie leicht sich Katastrophen wie die der NS-Diktatur wiederholen können. »Wer war denn dieser Hitler schon als Person?«, fragte Hessel im Doku-Zentrum, »er war weder besonders intelligent noch sah er irgendwie ansprechend aus, aber er hatte diesen absolut zerstörerischen Willen des Wahnsinns.« Er warnte die Klasse deshalb vor einer falsch verstandenen, kostspieligen Bewunderung, bei der am Ende die eigene Freiheit auf dem Spiel steht. »Bleibt wachsam,« mahnte der Gast in Nürnberg, »wir Franzosen haben eine Art Vergangenheit der Kritik, das deutsche System setzt mehr auf Autoritätshörigkeit.«
»Für ein starkes Deutschland«
Gemeint sei damit aber keineswegs, die Werte der eigenen Kultur über Bord zu werfen - im Gegenteil. Hessel ermutigt die Schüler eindringlich: »Wir brauchen heute ein starkes europäisches Deutschland. Überlegt, welch wichtigen Teil der deutschen Kultur die Nazis mit den Juden damals vernichtet haben. Beschäftigt euch mit der Größe deutscher Literatur oder Kunst.« Auch in dieser Tradition seien die Grundlagen für Offenheit, Respekt und Verständigung mit anderen Menschen gelegt. Nach dem »komplizierten 20. Jahrhundert« biete sich den Jugendlichen die Chance, an einer friedlichen Entwicklung mitzuwirken, wenn sie dieses Erbe nutzen.
Wie zur Bekräftigung bietet Stéphane Hessel den Schülern am Ende an, ein Gedicht vorzutragen. »Dazu muss ich aber aufstehen.« Der 91-jährige Franzose erhebt sich und zitiert aus dem Gedächtnis feierlich einige Hölderlin-Verse.
Michael Kasperowitsch
Nürnberger Nachrichten vom 22.11.2008
Nürnberger Zeitung 24.11.2008
NÜRNBERG - Es war ein bewegender Moment selbst für einen Experten wie Krzysztof Drzewicki, der sich schon lange mit den Menschenrechten befasst. Der polnische Völkerrechts-Professor, der auch schon für die polnische Regierung vor dem Menschengerichtshof in Den Haag tätig war, sah am Wochenende zum ersten Mal mit eigenen Augen den Schwurgerichtssaal, in dem die Nürnberger Prozesse stattfanden. «Bisher habe ich ihn nur aus Kinofilmen gekannt, und jetzt konnte ich ihn selbst sehen», sagte der Professor der Uni Gdansk der NZ am Rande der Internationalen Menschenrechtskonferenz im Caritas-Pirckheimer-Haus. Auch sonst ist Drzewicki angetan von Nürnberg. «Die Altstadt hat viele Ähnlichkeiten mit meiner Heimatstadt Danzig.»
Angereist war er zu einem Vortrag über die Bedeutung der Demokratisierung für die Menschenrechte und den Helsinki-Prozess. Europa, so der Experte, habe in der Vergangenheit ein doppeltes Gesicht gezeigt. Einerseits habe es kulturell und historisch großartige Dinge erreicht. Andererseits spielten sich gerade hier drei von Menschen gemachte Tragödien ab oder nahmen hier ihren Anfang: der Kolonialismus, der Nationalsozialismus und der Kommunismus. «Das waren die drei großen Krankheiten, die es zu überwinden galt.»
Alle drei hatten eine Gemeinsamkeit: dass Menschenrechte keinen Wert hatten. Deshalb, so folgerte Drzewicki, musste man zu der Einsicht gelangen, dass Europa Demokratie und Sicherheit nur erreichen konnte, wenn auch die Menschenrechte gewahrt würden. Dieser Prozess sei freilich noch längst nicht abgeschlossen auch in Europa nicht.
Für Europa sei die Erkenntnis der Friedensforscher bedeutend, dass Demokratien keine Kriege gegen andere Demokratien führen. Deshalb habe auch 1949 der Europarat erklärt, dass er nur Länder aufnehmen würde, die Demokratien seien und so waren Spanien und Portugal nicht von Anfang an mit dabei. Für Osteuropa konnte die Aufnahme erst erfolgen, nachdem diese nach dem Ende des Kalten Krieges demokratisiert wurden. Der Helsinki-Prozess begann 1973 durch die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit dem vorsichtigen Brückenbau zwischen Ost und West. In der Schlussakte von Helsinki 1975 waren zwar bereits Menschenrechte festgelegt.
Wie geduldig allerdings Papier sein kann, zeigt sich auch am Beispiel Argentinien, das die argentinische Professorin und Menschenrechts-Expertin Elizabeth Jelin vorstellte. Als Einwanderungsland habe es mit einer liberalen Verfassung Migranten aus Europa angelockt. Dies verhinderte nicht die schweren Menschenrechtsverletzungen in den 70er Jahren mit ihren zahlreichen Entführungen, Folterungen, politischen Morden und Zwangsadoptionen. Dennoch, so machte Jelin deutlich, habe sich in den südamerikanischen Ländern eine andere Menschenrechtsbewegung formiert als in Europa. In Lateinamerika werde die Bewegung vor allem von den Opfern beziehungsweise ihren Nachkommen und Verwandten getragen. Jelin selbst sei keine Betroffene und fühle sich deshalb trotz ihres großen Engagements manchmal ein wenig außenstehend.
Als Referentin in Nürnberg war sie diejenige mit der weitesten Anreise. Sie sei aber sehr gerne in die Stadt der Menschenrechte, «die international einen sehr guten Ruf hat», wie sie der NZ sagte, gekommen. Allerdings hatte sie am Samstag noch keine Zeit, etwas von dieser Stadt in Augenschein zu nehmen.
Die internationale, mit hochrangigen Referenten besetzte Konferenz ging am Samstag zuende. Michael Krennerich vom Nürnberger Menschenrechtszentrum, das die Konferenz erstmals zusammen mit der Bundes-Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft veranstaltete, zeigte sich mit den Resultaten sehr zufrieden. «Es war eine wunderbar internationale Atmosphäre spürbar», sagte er der NZ. Nicht nur das Podium sei sehr international und hochrangig besetzt gewesen, sondern auch der Teilnehmerkreis habe dafür gesorgt, dass sich «Diskussionen auf hohem Niveau» führen ließen.
Stephanie Rupp
Nürnberger Zeitung vom 24.11.2008