Informations- und Gesprächsabend zur Städtepartnerschaft Witten und Tczew


"Unrecht und Vertreibung"

Einleitendes Referent zum Thema Deutsche und Polen und die Diskussion um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin durch den Slavist und Politikwissenschaftler Wulf Schade aus Bochum

Dienstag, den 14.2.2006 um 19.00 Uhr





Informations- und Gespächsabend "Unrecht und Vertreibung"

Innerhalb unserer aktuellen Reihe von Veranstaltungen zur Städtepartnerschaft, die wir im letzten Oktober begonnen hatten, haben wir am 14. Februar Herrn Wulf Schade, Slavist und Politikwissenschaftler aus Bochum, als Referenten zum Thema "Unrecht und Vertreibung" eingeladen.
Der Abend im Gemeindezentrum der Johanniskirchengemeinde war gut besucht. Unter anderem waren auch fünf Funktionäre des "Bundes der Vertriebenen" gekommen, die ihre ganz persönliche Sicht und Betroffenheit in die Diskussion mit einbrachten.

Es zeigte sich, dass dieses Thema "Vertreibung" sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges keineswegs durch die Geschichte überholt ist, sondern eher noch aktueller und brennender denn je.
Schade referierte mit dem Schwerpunkt darauf, dass man den Zusammenhang zwischen der Kriegsführung der Nationalsozialisten im Osten und der Problematik der Vertreibung sehen müsse. Insbesondere der Charakter des Krieges als "rassistischer Vernichtungskrieg" habe dazu geführt, dass auf Seiten der Sowjetunion und Polens der Gedanke an ein weiteres Zusammenleben mit den Deutschen als Nachbarn, Tür an Tür in der gleichen Stadt und im gleichen Land, als nicht akzeptabel gelten musste. Die Vertreibung folgte damit auch einer von den Nationalsozialisten hergestellten Logik.
Nach dem faktenreichen und auch sehr persönlichen Vortrag des Referenten wurde die Aussprache eröffnet.
Angesichts der Brisanz des Themas und der bei einigen Anwesenden großen persönlichen Betroffenheit, wurde von der Diskussionsleitung gleich zu Anfang vorgeschlagen, dass man zugunsten eines konstruktiven Gespräches präzise unterscheiden solle zwischen der Achtsamkeit gegenüber dem individuellen Leid einerseits, und den historischen Tatsachen andererseits. Die Emotionen über erlittenes Leid hätten ihren Platz in der persönlichen Erzählung, dürften aber nicht zu einer Verfälschung oder gar völligen Leugnung historischer Tatsachen missbraucht werden.
Nachdem dies klargestellt und erste unsachliche Äußerungen ("Der Referent hat hier einen Monolog gehalten!"), die nur dazu geführt hätten, die dargebotenen Fakten auszublenden und eine trotzige Konfrontation heraufzubeschwören, bestimmt aber scharf zurückgewiesen worden waren, entwickelte sich ein angeregtes Gespräch, das sich immer mehr öffnete für das große Bedürfnis nach Narration. Offenbar muss das Schreckliche immer wieder erzählt werden dürfen; offenbar muss aber gleichermaßen auch immer wieder die historische Wahrheit festgehalten werden, wer hier der Täter, wer hier das Opfer ist. Eine Tendenz zur Opfer-Täter-Umkehr war jedenfalls bei einigen Beiträgen immer wieder zu beobachten. Neben Äußerungen, die der immer noch virulenten Frontstellung der Vertrieben-Verbände geschuldet waren, wurde das Gespräch aber insgesamt sehr viel umfassender und differenzierter geführt. Von der auch anwesenden polnischen Seite wurde kritisiert, dass bei Lektüre der deutschen Presse in den letzten zwölf Monaten der Eindruck entstehen könne, die Vertreibung sei gewissermaßen vom Himmel gefallen und der Zweite Weltkrieg habe lediglich von Februar bis Mai 1945 gedauert und habe nur aus Bombennächten und Vertreibung der Deutschen bestanden.
Ein weiterer Argumentationsstrang versuchte, zwar jetzt den Zusammenhang zwischen der Art der Kriegsführung im Osten und der Vertreibung zu sehen, gleichzeitig aber zu betonen, "damals" und noch weit bis in die Sechziger Jahre hinein, aber "nichts gewusst" zu haben. Weil man aber über das Hitlerregime und seine Verbrechen nichts gewusst habe, deshalb habe man die Vertreibung schlichtweg ausschließlich als Unrecht sehen müssen. Wie es nun aber mit dieser Einstellung heute, da man nun "weiß", bestellt sei, blieb ungesagt…

Als wesentlich bleibt festzuhalten: Ein Gespräch ist nötiger denn je, vielleicht aber auch möglicher denn je. Dieses Thema wird sich aber auch nicht, wie mancher hoffen mag und es euphemistisch umschreibt, "biologisch" erledigen.
Dieser Abend hat gezeigt, entscheidend ist das Maß an Verdrängung, das in den Familien immer noch oder vielleicht sogar in zunehmendem Maße praktiziert wird und auf ihren Kindern und Enkeln lastet. Die unter dem Titel "Opa war kein Nazi" veröffentlichte Studie über den Umgang der nachgeborenen Generation mit den Untaten der Vorfahren verdeutlicht, wie sich das schlechte Gewissen durch ein Umschreiben und Umdeuten der Geschichte zu befreien versucht, ohne der Wahrheit ins Gesicht sehen zu wollen.

Wir schätzen diesen Gesprächsabend als eine sehr gelungene Veranstaltung ein, weil in einer insgesamt doch konstruktiven Gesprächsatmosphäre die falschen Ausflüchte immer wieder zurückgewiesen werden konnten und sich aber zugleich die Bereitschaft zur Mitteilung so weit öffnete, dass der Bericht über das ganz persönliche Leid möglich war, ohne gleichzeitig die Frage der Schuld durch falsche Anschuldigungen und Rechtfertigungen der Taten der Vorfahren ausblenden zu müssen.
Sicherlich wäre es gut gewesen, in den vergangenen Jahrzehnten viele solcher Gesprächsrunden durchzuführen. Leider ist dies versäumt worden. Die deutschen Vertriebenen sind materiell gut ausgestattet worden und werden so auch heute noch versorgt. Wichtiger wäre es aber gewesen, sich auch mit den erlittenen Traumen und ihren Folgen aktiv auseinanderzusetzen. Die Zeit und der Stand der geschichtlichen Forschung haben die Möglichkeiten hierfür verbessert. Diese Chancen zu einer Versachlichung der Diskussion sollten genutzt werden. Niemand muss dem zu recht umstrittenen Plan für ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin zustimmen, weil er befürchtet, dass für die Vertriebenen eine Welt zusammenbrechen könnte. Solche Erschütterungen eines falschen Weltbildes, das auf der beschwiegenen Schuld gegründet ist, können heilsam und befreiend sein.






Empfohlene Literatur

Schwan, Gesine:
Politik und Schuld : Die zerstörerische Macht des Schweigens. - Fischer
ISBN 3-596-13404-8

Klappentext:
Was bedeutet nicht verarbeitete Schuld für die politische Kultur einer Demokratie? Diese Frage mußte und muß die deutsche Gesellschaft in diesem Jahrhundert gleich zweimal beantworten - nach 1945 und nach 1989. Gesine Schwan streitet mit ihrem Überblick über ein Menschheitsthema gegen die naive und falsche Hoffnung, daß unverarbeitete Schuld sich mit der Zeit - gewissermaßen biologisch - von selbst "auswachse".
...der Argumentationsgang und -stil des ganzen Buches (ist) meisterlich...
Bernhard Schlink
... eine Ermutigung auf dem Weg zu politischer Wahrhaftigkeit in der Bundesrepublik...
Michael Jeismann
Gesine Schwan hat Schneisen geschlagen in ein Dickicht, in dem wir alle stecken.
Richard Schröder

Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline:
Opa war kein Nazi : Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. - Fischer . - 256 S.
ISBN 3-596-15515-0

Klappentext:
Was wird in Familien "ganz normaler" Deutscher über Nationalsozialismus und Holocaust überliefert? Die Autoren haben in Familiengesprächen und Interviews untersucht, was Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon an die Kinder- und Enkelgenaration weitergegeben wird.