war die zweite Veranstaltung zum Thema "Vertreibung", die wir durchgeführt haben. Bei der ersten Veranstaltung im Februar 2006 stellten wir die Diskussion um ein von den Vertriebenenverbänden gefordertes "Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin" in ein Verhältnis zur deutsch polnischen Geschichte.
Der Freundschaftsverein möchte mit dieser Veranstaltungsreihe der angestrebten Völkerverständigung eine tragende Grundlage geben. Insbesondere zum Thema "Vertreibung" möchten wir den Wittener Bürgern ein Forum anbieten, in dem es möglich ist, sich diesen Fragen ohne Tabuisierung zu nähern, ohne eine ständige Reproduktion der Klischees des Kalten Krieges, aber auch mit wachem Bewusstsein für die neuen Konfliktlinien, wie sie sich etwa gegenwärtig wieder in der Debatte um ein "Zentrum für Vertreibungen in Berlin" zeigen.
Der Film "Schlesiens wilder Westen" von Ute Bandura leistet vor diesem Hintergrund eine Trauerarbeit, die politisch und privat zugleich ist. Gerade weil der Film sich eines Kommentars enthält, gelingt es ihm, gestützt durch die ruhige Kameraführung, eine respektvolle Aufmerksamkeit für die Geschichte der Bewohner eines Dorfes zu gewinnen, das heute Kopaniec heißt und bis 1945 Seifershausen hieß.
Was zeigt uns der Film, was dokumentiert er?
Da sind diejenigen Deutschen, die im Reisebus ihre alte Heimat wieder besuchen, schwankend zwischen Wiedersehensfreude und Melancholie, trotzig in Versen und Aussagen betonend, dass man ein "Schlesier" bleibe. Sie spüren ein "Kribbeln", wenn sie über die Dorfstraße gehen, auf der sie vor fast 60 Jahren als Kinder gespielt haben; sie identifizieren in den Mauerresten einer Küche noch Restbestände eines Bildes vom Rübezahl und schnuppern die Luft. "Der Duft, den hat man (noch) in der Nase." Da wird "Heimat" mit allen Sinnen noch einmal wahrgenommen.
Von den dort nun lebenden Polen werden sie einerseits mit Skepsis bestaunt, andererseits aber auch gastfreundlich aufgenommen. Man sitzt bei einem gemeinsamen Essen zusammen, wenn auch befangen in der gemeinsam gefühlten Opferrolle.
"Wir sind alle Kinder Gottes", meint ein alter Pole, der unter den Nazis Zwangsarbeiter gewesen ist; man spürt, er will das Gemeinsame unter den vertriebenen Menschen, nicht die Differenzen betonen.
Man einigt sich auf die Formel: "Mein Leid, dein Leid - Zukunft sollte für alle da sein!"
Oder da ist der junge Deutsche, der sich in Polen ein Haus bauen will, sich so dort wieder beheimaten will, wo einst seine Eltern lebten. "Natürlich", so sagt er selber, hat er "zunächst Polnisch gelernt". Seine Mutter, die diesem Unternehmen ihres Sohnes äußerst skeptisch gegenüber stand, wurde von den nun ihr Haus bewohnenden Polen eingeladen, in ihrem "alten Kinderzimmer" schlafen zu dürfen.
"Am Morgen öffnete ich das Fenster und blickte, wie damals als Kind, auf das Riesengebirge." Ihre Wehmut darf sein, aber auch, dass die Polen bleiben. So fühlt sie sich angenommen mit ihrer Geschichte und kann so ihrerseits den Polen ihr neues Zuhause ohne Verbitterung gönnen und lassen.
Eine Szene des Films soll hier besonders betont werden:
Aus den Ruinen eines Hauses bauen junge Polen und Deutsche einen Kinderspielplatz. Ist das die Verwandlung, die nötig ist, um das Leid des Vernichtungskrieges der Nationalsozialisten und auch das der daraus folgenden Vertreibung der Schlesier zu überwinden?
"Die Ruinen sollen weg, Neues soll entstehen", so der Tenor der Polen wie der Deutschen.
Die Filmvorführung wurde von uns nach etwa zwei Dritteln unterbrochen, um dem Gespräch über die bis dahin schon aufgeworfenen Eindrücke und die so erregten Gefühle und Gedanken hinreichend Raum zu geben.
Wie schon in vorherigen Veranstaltungen wurde in Berichten, Erinnerungen, Anekdoten und Episoden deutlich, wie sehr dieses Thema Vertreibung die Gemüter, Generationen übergreifend, bewegt und wie sehr die Menschen sich darüber austauschen wollen, um zu einer ehrlichen Verständigung zu kommen.
Es ging zunächst um den Austausch von Erfahrungen mit eigenen Besuchen in Polen. Sollte man sich den jetzt möglichen Besuch der "alten Heimat" zumuten? Womit wird man da konfrontiert? Reißt das nicht unnötigerweise alte Wunden auf?
Da war zum Beispiel der Bericht über eine Aussiedlerin, die bei einer Gruppenreise eher zufällig in ihr altes Dorf kam und tief erschüttert feststellen musste, dass der Hof ihrer Eltern nun schon lange unbewohnt, verlassen und von der Natur überwuchert war. Hier prallte das Idealbild der Erinnerung mit einer zum Schlechten veränderten Realität zusammen. Der persönliche Schmerz in dieser Konfrontation machte deutlich, wie groß die emotionale Bindung an die "Heimat" ist, gerade, wenn diese nicht erreichbar ist.
Die Frage, was zu der besonderen Wehmut der deutschen Vertriebenen führt, wurde angesprochen, war aber nicht abschließend zu beantworten. Einige Hinweise auf die Problematik ergaben aber der Film und die Diskussion. Eine idealisierende Sicht der Kindheitserlebnisse gibt es bei den meisten Menschen. Bei denen, die ihre Heimat verloren haben und diese nur noch selten besuchen und sehen können, scheint dieses Gefühl jedoch besonders ausgeprägt zu sein. Auffällig war, dass sich die deutschen Zeitzeugen recht genau an die erlittenen Demütigungen durch die neuen polnischen "Herren" im Dorf nach Kriegsende erinnerten, dass aber keiner von ihnen den Versuch unternahm, die Verquickung der eigenen Familie mit der 1945 entstandenen Situation zu betrachten. Dient hier diese Idealisierung vielleicht auch der Ablenkung von der Frage nach Verantwortung und Schuld?
Ein anderer Aspekt wurde deutlich bei dem Schwärmen vom schönen Leben in Schlesien, damals. Wie im Film zu erfahren war, handelte es sich um kleine Bauernhöfe mit schlechter Bodengüte. Als die aus ihrer Heimat ausgesiedelten Deutschen in den westlichen Teil Deutschlands kamen, mussten sie zum Beispiel auf einem münsterländischen Bauernhof arbeiten, um Wohnung und Lebensunterhalt zu haben. Dieser Bauer aber, mit seinem großen Hof mit gutem Ackerland, schaute verächtlich auf die "armen Flüchtlinge" herab. Wie die Bilder des Films von der Reise in die alte Heimat zeigen, ist dort offensichtlich für Jahrzehnte die Zeit stehen geblieben. Es hat sich hier nicht so sehr viel verändert im Vergleich mit den Kindheitstagen der Vertriebenen. Der moderne Reisebus verdeutlicht, dass es sich anscheinend nicht nur um eine Reise auf’s Land, sondern um eine Zeitreise handelt. Da ist die glückliche Kuh, die zum Melken trottet, die anarchische Wohngemeinschaft der Hühner, die morgens gackernd zum freien Scharren und Futter suchen ausschwärmt; Szenen die wir aus Kinderbüchern zu kennen glauben, die aber nichts mehr gemein haben mit einer industrialisierten Landwirtschaft in Deutschland. Könnte es sein, dass sich die Wehmut der Vertriebenen auch dem Gefühl speist, dass das Leben in der neuen Heimat nicht so überschaubar und gestaltbar erscheint, wie das der Kindheit?
Eine andere Frage war die, was man an Entgegenkommen von den Polen erwarten darf, was andererseits an Empfindlichkeit zu respektieren ist vor dem Hintergrund der Kriegsschuld. Am Beispiel der Aussprache der polnischen Städtenamen konkretisierte sich dieses Problem. Ist es das Recht der Polen, da empfindlicher zu sein als die Franzosen etwa?
Ist ein Name nur Schall und Rauch oder steht der neue Name für eine neue Identität? Ist uns dies nicht selbstverständlich bei der Namengebung Menschen gegenüber? In der bewussten Namengebung dem Neugeborenen gegenüber zeigt sich: Der Name wird mit der Sache verbunden, ja sogar mit ihr identisch gesetzt. In der "Muttersprache" zeigt sich und wird erlebbar, in welchem "Vaterland" man lebt: dem des (ehemaligen) Feindes oder in seinem eigenen ...
Im weiteren Verlauf des Gesprächs ging es dann um Erfahrungen mit der Aufnahme als "Flüchtling" hier im Westen, um von daher die Wirkung von Vertreibung auf die Betroffenen besser beurteilen zu können.
Gelang die Integration, war eine neue Beheimatung eher möglich, der Verlust der Heimat wurde als weniger schmerzlich erlebt. Man konnte sich neu verwurzeln, sich neu beheimaten!
Es wurde dabei auch vom für beide Seiten unvorbereiteten Zusammenleben berichtet, aber auch davon, dass es im Freundeskreis sowohl eine polnische Freundin als auch eine geflüchtete Schlesierin gab, dies aber nie thematisiert wurde.
Teilweise erfolgte die "Integration" offenbar ganz selbstverständlich im gemeinsamen Aufwachsen, vor weitgehend dieselben Probleme gestellt: in der Schule durchzukommen, spielen zu können und vor allem, zu essen zu haben.
Andererseits wurde vom Neid der Nicht-Vertriebenen berichtet, weil die Vertriebenen beispielsweise besseren Wohnraum bekamen als die "Einheimischen".
Deutlich wurde aber auch, wie andererseits Beheimatung erschwert wird, wenn "Heimat" mit Boden, Acker, Haus verbunden wird, und nicht auch mit den Freunden, gar den neuen in der "neuen Heimat".
Mit der Vorführung des letzten Drittels des Films ließen wir den Abend in ruhiger und aufmerksamer Atmosphäre ausklingen. In der Schlusssequenz des Films sieht man zwei polnische Jungen, die, im Grase lagernd, das Dorf unter sich, jedes Haus und seine Bewohner zeigen und beim Namen nennen können. SIE SIND ZUHAUSE.