Ein Abend im Herbst, ca. vier Wochen vor Weihnachten und in der achten Woche des Weihnachtssonderverkaufes von Backwerk, Marzipan- und Schokoladenprodukten in den Supermärkten, nicht nur in Deutschland.
Ein Gesprächsabend über polnische Literatur zu dem der Freundschaftsverein Tczew - Witten eingeladen hatte.
Was verbindet das Ziel des Vereines, die Städtepartnerschaft mit einer polnischen Partnerstadt zu fördern, mit dem Angebot, polnische Literatur öffentlich zu lesen und darüber zu diskutieren?
Die Autorin der für den Abend ausgesuchten Erzählung war den Gästen vorher nicht bekannt gewesen und trotzdem war die Veranstaltung gut besucht. Mit Interesse, mit Neugier, der Bereitschaft zur Reflexion und der Lust daran, Neues zu erfahren, lassen sich die Motive zur Teilnahme beschreiben.
Nach dem Titel des kurzen literarischen Textes, über den an dem Abend gesprochen wurde, dreht es sich bei der Erzählung um Schokolade. Schokolade. Ist hier das "Getränk der Götter" im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes bei den Azteken gemeint oder geht es doch nur um etwas wie das Heer der namenlosen Weihnachtsmänner, die nicht mehr wissen, wann ihr Auftritt kommt?
Die Erzählung von Hanna Krall, die sich auf ein Interview mit einem Zeitzeugen stützt, lenkt den Blick in die Zeit der deutschen Okkupation in den frühen 1940'er Jahren in der polnischen Hauptstadt Warschau. Vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen die Szenen der Vergangenheit, die für den Berichtenden noch nicht vergangen sind, und die Sprache der Erzählung zwingt den Leser, selber Stellung zu beziehen, denn der Text bietet keine Beruhigung, keine fertigen Antworten. Die distanzierte und sachliche Sprache lässt ein lebendiges Bild der historischen Situation entstehen. Aber selbst die Frage von Gut und Böse, die doch so einfach zu beantworten sein müsste angesichts des Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen Polen, gibt angesichts des sehr differenzierten Einblicks in die Situation doch noch zu denken.
Tatsächlich geht es um Schokolade, die göttliche Speise. Und es geht nicht um irgendeine Schokolade, sondern um Schokolade der Firma Wedel in Warschau. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dürfen wir kein so umfangreiches Konsumangebot, wie es heute üblich ist, voraussetzen. Es gab kaum etwas zu kaufen und die Masse der Bevölkerung lebte knapp über dem Existenzminimum. Süßigkeiten, wie sie heute zum Alltag gehören, waren Luxus. Schokolade der Firma Wedel jedoch war Luxus mit Weltklasse.
Die 1851 in Warschau gegründete Firma wurde seit den 1920'er Jahren von Jan Wedel, dem Vertreter der dritten Generation der Wedels, geführt. Der Großvater hatte mit der Produktion von feinen Schokoladen begonnen und um eine Vorstellung von der frühen Geschäftstätigkeit zu geben, täglich u. a. 500 Tässchen heiße Schokolade an die zahlungskräftigen Warschauer der gehobenen Gesellschaftsschichten verkauft.
Von der nächsten Generation wurde die Produktion modernisiert und ausgeweitet. In der Warschauer Innenstadt wurde ein Haus errichtet, das in seinem Erdgeschoss einen repräsentativen Salon der Schokolade beherbergte. Der Begriff Caféhaus würde zwar das Ambiente, nicht aber den Gegenstand des Geschäftes treffen.
Unter der Leitung des in der Erzählung von Hanna Krall erwähnten Jan Wedel wurde im Ortsteil Praga eine neue Fabrik gebaut, die im Jahre 1939, dem Jahr des deutschen Überfall auf Polen, 1.300 Mitarbeiter beschäftigte. In den Jahren der zweiten polnischen Republik, nach 1918, war das Geschäft international ausgeweitet worden. Filialen existierten in Amerika und Japan. In Europa war Wedel in Berlin, London und Paris vertreten. Die Filialen im Ausland wurden per Flugzeug mit frischen Waren beliefert.
Können wir uns heute vorstellen, dass es damals eine Selbstverständlichkeit war, dass die Besucher der Oper in Paris in den Pausen Schokoladen von Wedel naschten? (Und sicherlich klang der Name "Wedel" auf Französisch ähnlich wie im Polnischen auch weit eleganter als das deutsche Original.)
Vor diesem Hintergrund wird dem deutschen Leser, dem möglicherweise diese Ikone des "süßen" Polens nicht so geläufig ist, vielleicht verständlicher, in welchem Rahmen sich die von Hanna Krall dargestellte Auseinandersetzung abspielt. Die Autorin gibt die Schilderung aus dem von ihr gemachten Interview weitgehend unkommentiert wieder. Es wird anhand des Erlebens eines einzelner Menschen geschildert, was für Polen von schicksalhafter Bedeutung war und auch heute nicht als abgeschlossene, vergangene Geschichte betrachtet werden kann.
Eindrücklich wird in dem Text die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Besatzern und den ums Überleben, Freiheit und Würde ringenden Polen geschildert. Da steht der Chef des Schokoladenimperiums des Morgens um sechs und bespricht beim Rasieren den Tagesplan, den er seinem Mitarbeiter für besondere Aufträge erteilt. So werden dann in der Folge Gefangene freigekauft, und so kommt auch die Schokolade in die Schuch-Allee in das Gestapo Hauptquartier.
Mit Sicherheit hatte die Firma Wedel auf ihrem Weg zu der Stellung, die sie im Jahre 1939 erreicht hatte, schon einige Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Und auch die durch die Okkupation entstandene Situation scheint als eine Aufgabe angesehen zu werden, die zu lösen ist. Es spricht wohl für ein gewisses Selbstvertrauen, für Mut und Organisationsfähigkeit, dass Wedel die Wiedereröffnung seiner Fabrik bei den Besatzungsbehörden erreichte. Zwar musste er die Produktion an die deutschen Besatzer abliefern, aber es blieb da doch noch etwas übrig, womit etwas im Sinne des besetzten Landes und seiner Bürger erreicht werden konnte. Auch war es ihm so überhaupt erst möglich, die Versorgungslage seiner Arbeiter und Angestellten zu verbessern. Irgendwie gelang es, dass da Nahrungsmittel für seine Leute abfielen, die in Menge und Qualität weit über den offiziellen Zuteilungen lagen.
In dem Gespräch wurde auch über Möglichkeiten, Sinn und Ziel des Widerstandes gesprochen. Fragen, die sich nicht abschließend behandeln lassen, die aber, indem wir uns mit ihnen auseinandersetzen, Verständnis ermöglichen. Wenn wir als Bürger einer polnischen Partnerstadt ein freundschaftliches Verhältnis mit unserem Nachbarn in Europa anstreben, dann ist die Bereitschaft, sich auch mit der gemeinsamen Geschichte differenziert auseinanderzusetzen, eine Voraussetzung zu einem gegenseitigen Verständnis.
Eines lässt sich aber über die Wirkung des Widerstandes, wie er in der Erzählung geschildert wird, sagen: Jan Wedel ist es gelungen, so etwas wie einen Mythos um die Firma Wedel zu schaffen, der weit über seinen Tod im Jahre 1960 hinaus wirkt. Die Firma war im Jahre 1946 verstaatlicht und nach 1990 wieder privatisiert worden. Sie überstand den Verkauf an einen international agierenden Konzern, die Filetierung und den Weiterverkauf ohne grundlegende Abstriche daran zu machen, dass es sich um eine polnische Firma handelt, die auf eine großartige bürgerliche Vergangenheit zurückschaut. Waren es früher einmal Satyrn und Nymphen, die ein bürgerliches Publikum ansprachen und zum Genuss der feinen Schokolade zu verführen wussten, so sind es heute niedliche Nuss-Schokolade rührende Eichhörnchen und das wahrhaft himmlische, ja aphrodisiakisierende Gefühl, welches durch den Genuss von Wedels Ptasie Mleczko ausgelöst zu werden scheint. In Polen. In Deutschland ein eher unbekannter Genuss.
Und wenn wir uns zu Anfang gefragt haben, was den Wert einer Beschäftigung mit polnischer Literatur ausmacht, so ist vielleicht deutlich geworden, dass in dem langen und intensiven Gespräch, welches dem kurzen Text folgte, Raum war für Informationen, Gefühle und Fragen, die die Grundlage für ein tieferes Verstehen bilden können.
Es hat zum Gelingen des Gespräches beigetragen, dass hier verschiedene Generationen vertreten waren. Es gab die älteren Teilnehmer mit noch eigenen Erinnerungen an dem Zweiten Weltkrieg. An Nächte im Luftschutzkeller in Witten und daran, wie der Krieg die Menschen abstumpft und wie Elend und Tod als normal angesehen werden, auch um emotional überhaupt überleben zu können. Es waren aber auch jungen Menschen vertreten, die in einem Deutschland aufwachsen, in dem es anscheinend wieder als normal gelten soll, dass Deutschland sich an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt und auch Kriege führt. Wie sollen wir da als Bürger eines vereinten Europas von Städtepartnerschaft, von Frieden in Europa, Wohlstand und Frieden in der Welt träumen? Die Vergangenheit bietet noch viele offene Wunden, Wunden, die nicht so irgendwie von alleine oder mit der Zeit heilen. Dass sich an dem Abend Menschen zusammengefunden haben, die bei ihrem Interesse für den Nachbarn Polen die Bereitschaft mitbrachten, auch auf die eigenen (deutschen) Anteile der gemeinsamen Geschichte zu schauen, gibt Anlass zur Hoffnung. Ohne ein Gespräch miteinander und nicht übereinander, ohne die Bereitschaft, eigene Sichtweisen auch in Frage zu stellen, wird keine Annäherung in Europa auf Dauer gelingen können. Das Heilen dieser Wunden der Vergangenheit aus Krieg, Verfolgung und rassistischem Überlegenheitswahn kann nur ein aktiver Prozess sein, den wir nur bei uns beginnen können.
Wir danken der Firma E. Wedel für die freundliche Überlassung des auf dieser Seite verwendeten Bildmaterials.
Die Firma E. Wedel ist heute in Polen in mehreren Städten mit einem "Salon der Schokolade" präsent.
Unter anderem
in Warszawa "Staroswiecki Sklep"
ul. Szpitalna 8
00-031 Warszawa
und
in Sopot "Pijalnia Czekolady Sopot"
Bohaterów Monte Cassino 36/4
81-704 Sopot
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