Das Geheimnis der Vertreibung

Ein polnischer Schriftsteller über Heimatverlust und die Logik der "ethnischen Säuberung"

Von Stefan Chwin

Mein Vater wurde in Wilna geboren und hat dort seine Jugend verbracht. Wilna ist eine schöne, alte Stadt in Litauen. Als Litauen und Polen sich im 16. Jahrhundert freiwillig zu einem Staat vereinten, wurde Wilna neben Krakau zur zweiten Hauptstadt. Ende des 18. Jahrhunderts besetzten die Russen Wilna. Aus Litauen machten sie einen Teil Russlands, aus Wilna eine Provinzstadt des Imperiums.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Litauen ein unabhängiger Staat. Doch 1920 besetzte ein polnischer General die Stadt, die so zu Polen kam. 1940 kamen wieder die Russen. Diesmal waren es Russen mit einem roten Stern an der Mütze. Dann kamen von Westen die Deutschen und machten sich mit den Litauern daran, Polen und Juden zu morden. 60.000 haben sie ermordet. Als die Deutschen den Krieg verloren hatten und nach Westen geflohen waren, besetzten wieder die Russen mit dem roten Stern an der Mütze die Stadt; das war 1944. Dabei sollte es für 50 Jahre bleiben, bis zum Völkerfrühling, als Litauen ein zweites Mal seine Unabhängigkeit wiedererlangte.

Im Jahre 1944 machten sich die Russen daran, Polen und Litauer zu erschießen und in Massen ins Innere Russlands zu deportieren. Und mein Vater? Mein Vater sah das alles aus nächster Nähe. Er versteckte sich in den Wäldern bei Wilna und lernte die schwere Kunst des Überlebens in einem Gebiet, das den Besitzer wechselt. Viel hat er dabei wohl nicht gelernt, wahrscheinlich nur eines: dass man solche Gebiete möglichst meiden sollte. Sooft ich vom Kosovo höre, denke ich an seine "Abenteuer".

Nach dem Krieg gelang es meinem Vater, im letzten Moment das von den Russen besetzte Wilna zu verlassen. Er setzte sich in einen Zug, der nach Westen fuhr, und nach ein paar Tagen stieg er aus -- in einer Stadt, die er nie gesehen hatte. Die Stadt war abgebrannt, hieß "Danzig" und änderte gerade ihren Namen in "Gdansk". Bald tauchten Tausende von Polen auf, die die Russen aus Wilna vertrieben hatten. Mein Vater zog in die leer stehende Wohnung der Familie eines Danziger Briefträgers, die über die Oder vertrieben worden war. Er lernte meine Mama kennen und entschied, dass es höchste Zeit für mich sei, zur Welt zu kommen. Das war 1948.

Nach dem Krieg wollte mein Vater nie wieder nach Wilna fahren.

Selbst dann, als man ohne Hindernisse von Polen dorthin fahren konnte, hat er nie an eine solche Reise gedacht. Auch ist er nie einem "Bund der aus Wilna vertriebenen Polen" beigetreten. Aber warum wollte er seine Wilnaer Heimat nicht besuchen? Vielleicht wollte er nicht sehen, was man unter sowjetischer Herrschaft aus seiner Stadt gemacht hatte. Nur einmal, als von den alten Zeiten die Rede war, von denen ich nicht viel wusste, und das Gespräch darauf kam, murmelte er: "Die Sache ist erledigt."

Aber was bedeuteten diese Worte wirklich?

Die Vertreibung aus Wilna hat mein Vater sehr schlecht ertragen. Nie hat er diese Stadt an der Ostsee, auch wenn er dort mehr als vierzig Jahre gewohnt, dort geheiratet und Kinder bekommen hat, für seine Stadt gehalten, selbst wenn sich manche darüber wunderten, denn sein neuer Wohnort war vielleicht noch schöner als die Region, die er aufgegeben hatte. Als er das von den Russen besetzte Wilna verließ, blickte er aus dem Zugfenster auf sein Vaterhaus, das langsam hinter den Bäumen verschwand. Aber nie hat er sich bemüht, es zurückzubekommen, selbst als sich diese Chance bot. "Die Sache ist erledigt."

Was mein Vater -- und vermutlich auch andere Vertriebene aus den früheren Ostgebieten Polens -- über die Beschlüsse von Jalta dachten, war mir nicht ganz klar. Als Vertriebener, dem man den Besitz seiner Familie geraubt hatte, hätte sich mein Vater mit ganzem Herzen der Westverschiebung Polens entgegenstellen müssen. Als er in Danzig ankam, hatte er nur einen Mantel, eine Mütze und eine Aktentasche. Kaum mehr besaß meine Mutter, als sie mit einem Pappkoffer in Danzig den Zug verließ, in den sie in Warschau eingestiegen war. Dort hatten die Deutschen während des Aufstands das fünfstöckige Haus ihrer Eltern bis auf die Fundamente niedergebrannt.

Eines Abends erzählte mir mein Vater, was geschehen wäre, wenn man in Jalta nicht entschieden hätte, diese großen Bevölkerungsmassen in Ostmitteleuropa zu verschieben. Das war die fantastische Erzählung von einem Danzig, aus dem man die Deutschen nicht vertrieben hatte. An diese Erzählung musste ich später in meinem Leben immer wieder denken, wenn ich mit Erstaunen und Entsetzen sah, was in der Welt vor sich ging. Diese Erzählung lag im Danzig der Nachkriegszeit in der Luft; in der Zeit meiner Kindheit hörte man sie in den Läden, auf den Bahnhöfen, an Straßenbahnhaltestellen und in den Wohnungen, selbst dann, wenn niemand sie erzählte.

Sie lautete etwa so: Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten im polnischen Danzig gemeinsam 200.000 Polen und 500.000 Deutsche. Nachdem die Kommunisten verschwunden waren, kam Bewegung in die Situation. Die neue Regierung hatte nichts dagegen, dass die "deutsche Minderheit" ihre Identität pflegte. Es ging nur um die Grenze, welche die Deutschen dabei nicht überschreiten sollten. Konnte man also zum Beispiel dulden, dass die deutsche Bevölkerung auf dem Platz vor der Polnischen Post demonstrierte, jenem für die Polen heiligen Ort ihrer nationalen Niederlage des Jahres 1939, dem Danziger Kosovo Polje?

Da es auf beiden Seiten vernünftige Leute gab, konnten Konflikte immer irgendwie beigelegt werden. Das änderte sich mit den Kommunalwahlen, aus welchen die "deutsche Minderheit" natürlich als Sieger hervorging. Viele Einwohner Danzigs waren weiterhin für enge Verbindungen zu Polen, manche forderten mehr politische Autonomie, andere dagegen forderten grundlegende Veränderungen. Die bewaffnete Stadtwache, in deren Diensten seit den Wahlen viele Deutsche standen, begünstigte eindeutig die Anhänger einer Veränderung, zeigte sich dagegen kühl und reserviert gegenüber den friedlichen Demonstrationen der Polen.

Aus Furcht vor Unruhen entschied Warschau nach langen, erfolglosen Verhandlungen, die Wahlen für ungültig zu erklären und die gewählten Funktionsträger durch eigene Beamte zu ersetzen. Auf Grund der brisanten Sicherheitslage wurden die Polizeikräfte verstärkt. Als Antwort darauf gründeten junge Deutsche eine Geheimorganisation, die die deutsche Minderheit vor Verfolgungen aktiv schützen wollte. Um dem Schlimmsten zuvorzukommen, begann daraufhin die polnische Polizei, nach "Terroristen" zu fahnden. Die Atmosphäre auf den Straßen war angespannt...

Der Erzählung meines Vaters von einem Danzig, aus dem die Deutschen nicht vertrieben worden waren, lauschte ich mit gemischten Gefühlen. In ihr lag ein Geheimnis, das Angst einflößte. Die Ruhe meines Lebens, diese unschuldige Ruhe meiner Danziger Kindheit und Jugend, verdankte ich also den Deportationen, welche die Generation meiner Eltern so schmerzhaft berührt hatten? Ich konnte also in Frieden über die Straße rennen, im Kiosk am Bahnhof Orangenbrause trinken, Kirschen klauen und dem Schilpen der Spatzen lauschen, weil Danzig ethnisch gesäubert worden war? Und später konnte ich mich also an Grass erfreuen, weil es doch, wäre Grass nicht aus Danzig vertrieben worden, niemals die "Blechtrommel" gegeben hätte, dieses wunderbare, verrückte Meisterwerk, dessen Lektüre mir so viel Freude bereitet hat?

Wie sagte doch Mephisto zu jenem deutschen Doktor? Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft?

Natürlich bestand mein Vater nicht darauf, dass es in Danzig so hätte kommen müssen, wie er es erzählte. Im Gegenteil, er sagte, dass in der Geschichte nichts vorherbestimmt sei. Aber ich spürte, dass dieses grausame Ratespiel über den möglichen Gang der Weltgeschichte sein Herz gerade deshalb erfreute, weil es ein Spiel mit dem schlimmsten Ausgang war. Jene, die lächelnd versicherten, die Welt gehe immer besseren Zeiten entgegen, schätzte mein Vater nicht.

Denn indem er erzählte, was sich im Nachkriegsdanzig hätte ereignen können, wären die Deutschen nicht vertrieben worden, dachte er an die Ereignisse aus seiner Jugendzeit. Er war in den polnischen Ostgebieten aufgewachsen, wo Polen, Litauer, Ukrainer, Juden und Weißrussen nebeneinander lebten. Er liebte Wilna, seine Stadt, aber er konnte auch nicht vergessen, was sich in den dreißiger Jahren in dieser Gegend abgespielt hatte, als die Polizei mit weißrussischen und ukrainischen "Terroristen" langwierige Kämpfe auszufechten hatte. Mein Vater war nicht der Einzige, der das nicht vergessen konnte. Ich kannte auch andere Einwohner Danzigs, Vertriebene aus den polnischen Ostgebieten, die in ihrem Herzen eine richtige Vertreibungswunde trugen und manchmal sogar lauthals drohten, "dass Lemberg und Wilna wieder unser sein sollten", und die doch zugleich -- dieses Eindrucks konnte ich mich nicht erwehren --, deutlich darüber erleichtert waren, dass sie nicht mehr dort, in den Ostgebieten, in diesem kochenden Kessel verfeindeter Völker, leben mussten, dass sie wie durch ein Wunder von dort weggekommen waren. Alle um mich her, so hatte ich es als Junge erlebt, verfluchten Stalin, hassten die Kommunisten, sehnten sich nach der verlorenen Heimat im Osten, und zugleich, ja, zugleich waren sie erleichtert darüber, dass sie nicht zurückkehren mussten. So verfluchten sie mit einer Hälfte ihrer Seele das Übel, das ihnen widerfahren war. Aber mit der anderen, der sich schämenden, schweigenden, verborgenen Hälfte dankten sie dem Übel, dass es getan hatte, was es getan hatte? Dass es die sich schmerzhaft verletzenden Völker voneinander getrennt hatte? Und dass gerade diese Trennung den Weg zu guten Gefühlen und zur Versöhnung öffnen kann?

Ich habe mich überhaupt nicht gewundert, als Herr S., unser aus Wolhynien stammender Nachbar, nach einem Fernsehbericht über Jugoslawien zu mir sagte: "Wissen Sie, wenn Polen jetzt seine Vorkriegsgrenzen hätte, hätten wir nach 1989 in Wolhynien, in Wilna und Lemberg genau dasselbe gehabt. Und die Deutschen hätten es in Schlesien gehabt."

Was war also aus den Worten meines Vaters zu schließen? Dass man die Entstehung von multinationalen Gesellschaften, durchmischt und bunt wie ein aus Flicken genähtes Hemd, fördern soll, weil die Spannungen nur dort die Chance haben, sich in der wahren Farbenvielfalt des Lebens zu entladen, wenngleich die Menschen in solchen Gesellschaften ihre Identität verlieren und manchmal nicht wissen, wer sie wirklich sind? Dass die Errichtung von Heimen für Asylanten und Immigranten mitten in der Stadt -- anstelle ihrer Verteilung und Integration in die Gesellschaft -- bedeutet, den Teufel in Versuchung zu führen, weil nichts gefährlicher ist als die Bipolarität gesellschaftlicher Spannungen und die isolierte Andersartigkeit, die ins Auge sticht und damit Schlägen geradezu ausgesetzt ist? Dass man Grenzen öffnen und Mauern einreißen muss, damit die Menschen sich vermischen können?

Aber die Worte meines Vaters gaben noch zu anderen Schlussfolgerungen Anlass, die weit mehr Unruhe stiften. Ich wusste, dass Deportationen immer schrecklich sind. Aber wenn ein Verlust, der das Herz zerreißt und in der Seele eine nicht heilen wollende Wunde hinterlässt, manchmal den Menschen rettet, wie es mein Vater empfand? Und mit welchem Maß soll man Gewinn und Verlust im Leben des Einzelnen und im Leben der Völker messen?

Das wahre Fundament für die Versöhnung zwischen verfeindeten Völkern ist in der Regel der Tod -- der Tod einer abtretenden Generation, der Tod der Opfer und Zeugen. Der wahre Baumeister der Versöhnung ist die Zeit, auch wenn den Politikern scheint, dass gerade sie den guten Geist schaffen, der die Menschen verbindet. Die Generation der Opfer und Zeugen der Deportationen musste aussterben oder alt werden, damit in Polen, in Deutschland, in Litauen oder der Ukraine eine Generation geboren werden konnte, die sich der Versöhnung nicht widersetzt. Wer weiß -- wenn ich mit eigenen Augen gesehen hätte, was mein Vater gesehen hat, was meine Mutter gesehen hat, hätte ich vielleicht nie meinen Roman "Hanemann" geschrieben. Er handelt von einem Deutschen, der nach dem Krieg in Danzig geblieben war und sich mit einer aus Wilna vertriebenen Familie anfreundete.

Das heißt: Die Zeit, das Nichtwissen und der Tod haben mich begünstigt? Vielleicht ist es uns, den nach dem Krieg Geborenen, deshalb leichter, sich die Welt etwas besser vorzustellen als jene, die vergangen ist. Und im Kosovo wird es wohl genauso sein. Erst wenn die Generation der Opfer und Zeugen ausgestorben oder alt geworden sein wird, wird sich die Chance eines normalen Lebens und normaler Gefühle bieten. Wenngleich auch das keineswegs sicher ist, wenn man die Geschichte der Region bedenkt. Das Verheilen der Wunden kann und darf man, ebenso wie den Lauf der Geschichte, nicht beschleunigen.

Aber der Schriftsteller? Was soll der Schriftsteller tun mit diesem Wissen, das sein Herz in Unruhe versetzt? Der Schriftsteller steht mit diesem Wissen weder auf der Seite des Guten noch des Bösen, weder auf der Seite des Mitleids noch des Hasses. Er steht auf der Seite des Geheimnisses, das nachts hinter den flammengeröteten Rauchschleiern undeutlich aufscheint und uns vor den wichtigsten Fragen des Lebens ratlos lässt.

Aus dem Polnischen von

Gerhard Gnauck

Der Schriftsteller Stefan Chwin, Jahrgang 1949, lebt in Danzig. Sein bisher unveröffentlichter Beitrag ist Teil eines noch nicht abgeschlossenen essayistischen Werks mit autobiografischen Zügen. Bekannt wurde Chwin mit dem Roman "Hanemann", der vom Leben des deutschen Anatomieprofessors Hanemann im Danzig der Vor- und Nachkriegszeit handelt. Er erschien in Deutschland 1997 bei Rowohlt Berlin unter dem Titel "Tod in Danzig".

Die Welt. 21. 8. 1999






Stefan Chwin. Bücher in deutscher Sprache

Chwin, Stefan:
Tod in Danzig. Roman / Stefan Chwin. Aus dem Poln. von Renate Schmidgall. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt-Taschenbuch-Verl., 1999. - 285 S.
(rororo ; 22623)
ISBN 3-499-22623-5

Klappentext:
Die Deutschen verlassen 1945 das brennende Danzig. Kurze Zeit später suchen heimatvertriebene Polen in den verlassenen Wohnungen ein neues Zuhause. In einem Haus in der früheren Lessingstraße verflechten sich die Geschichten der alten und neuen Bewohner. Stefan Chwins suggestive Prosa und liebevolle Beschreibung einer legendären Stadt ist auch ein Roman über Heimatlosigkeit und Verlust.

Chwin, Stefan:
Der goldene Pelikan. Roman / Aus d. Poln. von Schmidgall, Renate. - 1. Aufl. - München ; Wien : Hanser, 2005. - 304 S.
ISBN 3-446-20656-6

Klappentext:
Jakub ist Juraprofessor an der Danziger Universität, gut aussehend, selbstbewusst, wohlsituiert. Er weiß, was richtig ist, und als ein Mädchen sich beschwert, sie sei zu Unrecht durch die Prüfung gefallen, lässt er sie hochmütig stehen. Bis er eines Tages zufällig erfährt, dass sie sich umgebracht habe. Sein Gewissen beginnt ihn zu plagen. Er begeht kleine Ladendiebstähle, trennt sich von seiner Frau, verliert Arbeit und Wohnung und irrt schließlich als Obdachloser durch die Stadt. Ein fesselnder Roman über das Leben und darüber, wie es plötzlich zerbrechen kann.