Freundschaftsverein Tczew-Witten e.V.



Zeitzeugengespräch in Tczew: Der Erste September 1939

[...] Im Juni fuhren wir jedes Jahr in den Ferien aufs Land zur Familie meines Vaters, sie hatten dort einen gehörigen Bauernhof. In jenem Jahr aber blieb ich mit dem Vater zu Hause, ich bin nicht verreist, nur Mutter mit den Geschwistern. Man ist nach dem Schulende verreist. Ich wollte nicht, ich war schon eine junge Frau und hatte schon eigene Pläne. Schon zu der Zeit wusste mein Vater Bescheid...
Wir hatten damals kein Radio zu Hause, im ganzen Haus gab es nur einen Radioapparat, einen batteriebetriebenen. Ein Radio besaß aber ein Kollege meines Vaters, er hat es nachher im Keller vor Deutschen versteckt, damit mein Vater auch während der Okkupation  Radio hören konnte. Und mein Vater sagte, dass der Krieg kommt, dass schlimme Zeiten kommen. Es war im August – am 30. August. Und wir alle: Beamte, Eisenbahnangestellte, Polizisten, alle staatlichen Angestellten...
Alle erhielten, alle Familien, solche Evakuationsfahrkarten nach Luboml -  es ist am anderen Ufer des Bug. Es hieß damals, der Krieg würde nicht lange dauern, weil Franzosen und Engländer helfen würden, es wäre ein kurzer Krieg – „Blitzkrieg“. Wir halten drei Monate aus. Ich weiß, dass Beamte Gehälter für drei Monate im Voraus erhalten haben, es sollte ausreichen, danach würde der Krieg beendet sein und alle dürfen zurück. Die Evakuierung begann Mitte August. Aber mein Vater wollte es nicht, er dachte, es gelingt uns vielleicht, dorthin überhaupt nicht zu fahren. Und so haben wir noch fast bis zum 30. August ausgehalten. Viele Eisenbahner sind schon zu der Zeit ausgereist, und Vater hat schließlich entschieden, dass wir auch fahren werden. Außer dem Vater natürlich, weil er im Dienst war und zu Hause zurückbleiben  musste. Er hat mir also die Fahrkarte gegeben und mich beauftragt, aufs Land zu fahren, alles einzupacken und am 31. August und am 1. September morgens...
Mein Vater hat sich auf mich verlassen, dass ich es erledige. Ich sollte die Familie zu dem Transport in Jezewo anmelden, so dass wir schon am 1. morgens früh in den Transport treffen würden. Das hat Vater entschieden. Am 30. August fuhr er mit mir zum Bahnhof in Tczew. Es war schon unmöglich, in den Zug reinzukommen, es war furchtbar. Schon eine Woche vor dem Kriegsausbruch haben die Leute was geahnt, wussten sie schon, es war schon damals die Mobilisierung... es war was Schreckliches. Man kann sich vorstellen, wie die Leute mit Koffern und Familien davonfliehen. Irgendwie hat mich mein Vater in den Waggon hineingezwängt - ich weiß noch, es war ein Warenwaggon – und zwar mit dem Gepäck. Weil meine Mutter keine Federbetten mitgenommen hat, und man wusste doch nicht, wie es im Winter wird. Sie hat Kleidung mitgenommen und ich nahm noch was wärmeres für den Winter mit und ich bin gefahren. Ich kam dort an, genau genommen war es in Jezewo, der Hof... es war  nicht sehr weit von der Eisenbahnstation entfernt, ich habe aber trotzdem das ganze Gepäck bei der Gepäckaufbewahrung  gelassen, und selbst bin ich zu Fuß gelaufen, ungefähr zwei Kilometer.

War es ein Dorf – Jezewo?

Ja, dort gab es ein paar Bauernhöfe. Also, ich habe mein Gepäck aufbewahren lassen und bin zu Fuß gelaufen. Nachher hat es der -  er war Neffe meines Vaters, aber im gleichen Alter wie mein Vater, weil mein Vater der jüngste war – also, er ist mit einem Fuhrwerk gefahren, die Sachen abzuholen. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass wir packen müssen, weil Vater es empfohlen hat. Und mein Vater inzwischen... Sie erhielten einen Befehl, wenn was passiert, sollten sie fahren – sollten sie mit einem Zug nach Warschau fliehen – und so geschah es, wie es sich später herausgestellt hat.
Es gab Tränen natürlich, niemand wollte den Hof verlassen...

Ihr Vater ist in Tczew geblieben?

Ja, er musste halt, alle sind dort geblieben, bloß die Familien ohne Väter. Alle Männer blieben in Tczew, alle auf ihren Posten – bei der Eisenbahn, überall. Kein einziger Mann ist mitgefahren, nur die Frauen mit Kindern. Sie alle mussten hier bleiben.
Bevor ich losgefahren bin, haben wir mit meinem Vater folgendes ausgemacht, egal, was passiert - ein Krieg ist doch ein Krieg – sollten wir auf dem Hof bleiben und darauf warten, dass er sich meldet. Er würde sich bestimmt melden und auch, wenn er fallen würde, würde er sich bemühen, durch jemand anderen eine Nachricht auszurichten, damit wir wissen, was geschieht. So haben wir es vereinbart.
Und jetzt kam schon der 31.... Am 31. haben wir eingepackt, sie gaben uns noch viel Essen, vor uns lag doch ein langer Weg. Und am 1. September fuhr uns mein Cousin zur Station. Ja, wir hatten eine Menge Gepäck. Jeder hatte eine Menge, weil man so viel mitnehmen konnte.
Abgefahren sind wir ungefähr um fünf Uhr morgens. Um diese Zeit, als wir vom Hof losgefahren sind, wie es sich später herausgestellt hat...
Und an der Station standen bereits Waggons für diejenigen, die die Fahrkarten nach Luboml besaßen, für solche Übriggebliebenen aus allen Orten in der Nähe – Eisenbahner und Soldaten. Die Familien natürlich. Und genau in dieser Zeit, als wir aus Jezewo losgefahren sind...
Wir sind durch Grudziadz gefahren, über die Weichsel  musste man fahren – wir wollten zur anderen Seite des Bugs hinfahren.

Zu dieser Zeit, als wir unterwegs waren, wurde die Brücke in Tczew bombardiert. Und wir haben genau neben der Brücke gewohnt, in der Nähe. Das heißt, sie wurde eigentlich nicht bombardiert, sondern von polnischen Soldaten in die Luft gesprengt. Weil dorthin schon ein deutscher Panzerzug von Przelnicewo kam, durch die Grenze in Przelnicewo. Also, wir näherten uns der großen Gruppen, es befand sich vor Grudziadz, dort war eine Kaserne, eine Art Truppenübungsplatz. Wir haben nur geschafft... Wir sollten gerade in die Hauptgruppe reinfahren und plötzlich kamen Maschinen herangeflogen und sie begannen zu schießen. Und wir waren in den Warenwaggons - ganze Familien. Niemand wusste Bescheid, was geschieht, nur die Soldaten, die dort auf den Feldern waren, schrieen: Fliehen, schnell, alle raus aus den Waggons, es ist Krieg! Es begann ein solcher Tumult, alle sprangen aus... Zu dieser Zeit genau existierte die Brücke in Grudziadz auch nicht mehr. Selbst, wenn der Vater zu uns kommen wollte, hätte er nicht gekonnt, weil es die Brücke nicht mehr gab, sie wurde zerstört. Und was sollten wir jetzt tun? Es waren eine Menge Leute, teilweise kannte ich sie nicht, sehr viele Leute... Und ich war so..., ich war schon immer so gelassen und bin es immer noch. Also, ein Teil der Leute floh, irgendwo in der Nähe war eine Fähre, sie wollten mit der Fähre die Weichsel überqueren. Ein Teil ist in den Wald geflohen, wo der Wald ziemlich dünn war. Wir standen im Wald und als die Flugzeuge weg waren -  für einige Zeit – befahlen uns die Soldaten, in einen Bunker reinzukommen. Das war ein riesiger Bunker, weil da in der Nähe eine Kaserne und ein Truppenübungsplatz war. Und wir saßen in dem Bunker, aber nur unsere Familie war dort, der Rest ist irgendwie weggelaufen. Und dort ausgerechnet fand sich ein Soldat aus der Nowa-Straße, der uns kannte und wir ihn auch, er war da im Dienst. Und er sagte: Mein Gott, ihr dürft hier doch nicht bleiben, hier bricht jeden Moment der Krieg aus, gerade hier wird die schlimmste Hölle! Ihr müsst was unternehmen. Er hat uns empfohlen, jemanden zu beauftragen oder so was, bei uns waren auch Kinder, mein Bruder war erst fünf. Wie kommt ihr jetzt aus dieser Hölle heraus, sagte er.

Und da herum waren nur kleine Häuschen, genau hinter dem  Truppenübungsplatz. Und er sagte, dass wir zu diesen Häusern fliehen sollten und warten, was passiert. Und meine Mutter blieb im Bunker mit den Kindern...
Wir haben übrigens gar nichts aus dem Zug mitgenommen, alle kümmerten sich nur darum, die Kinder herauszukriegen. Und der Zug stand im Wald. Meine Mutter sagte, dass wir fliehen müssen und ich erwiderte: „Mama, sollen wir alles liegen lassen und weiter nackt laufen? Keine Anziehsachen, gar nichts? Was werden wir weiter tun?

Ich habe niemandem zugehört, weder den Soldaten noch sonst jemandem. Dreimal glaube ich... Als die Maschinen einflogen, haben sie zuerst mit uns gespielt, ich sah keine Bomben, sie schossen nur. Es geschah alles schnell. Ich ging dreimal zu dem Waggon, es war nicht weit, für ein junges Mädchen – was war es – ich nahm es auf den Rücken, Federbetten und alles, was dort war, und auf diese Art trug ich es dreimal zu dem Bunker. Damals fing es schon an, schlimmer zu werden, wir waren schon zwei oder drei Stunden im Bunker. Soldaten sagten, wir müssen so schnell wie möglich weit vom Truppenübungsplatz... und der bekannte Soldat hat uns geholfen, das Gepäck in ein kleines Häuschen zu bringen, das weiter auf dem  Gelände der Kaserne stand. Wir sind zu Fuß dahin gegangen, und dort waren schon viele Leute, verschiedene Flüchtlinge, aus verschieden Seiten. In dem kleinen Haus waren viele Männer, eine Menge Kinder. Und dort sind wir geblieben. Ich bin nicht sicher, wann das genau war, aber es passierte ziemlich schnell, dass die Deutschen kamen. Das waren große junge Männer. Meine Schwester, ich kann mich erinnern, hat sehr geweint. Sie war damals zwölf. Und ich weiß noch, dass ein junger Soldat einen Kirmesring aus der Tasche herausholte und ihn ihr gab, um sie zu beruhigen. Den Frauen und Kindern wurde empfohlen, nach draußen zu gehen und keine Angst zu haben. Aber wie sollten wir mit dem Gepäck gehen? Wir hatten doch viel Gepäck. Es war damals sehr warm. Und jeder hat was vom Gepäck getragen... und da gab es nur Sand.

Frauen und Kinder sind nach draußen gegangen?

Ja.

Und die Männer sind darin geblieben?

Sie sind geblieben, aber was sie mit ihnen gemacht haben, das weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gekannt.
Und so sind wir durch die Wälder gegangen. Und meine Mutter hat sich erinnert, dass sie da in der Nähe jemanden kennt, weil sie aus dieser Umgebung kam. Und so haben wir in den Häusern danach gefragt, und tatsächlich hat jemand was gesagt. Meine Mutter hat auch einem Bauer Geld angeboten, der ein Pferd hatte, dass er uns nach Jezewo bringt, da wo der Hof war, es waren nicht viele Kilometer. Er sagte aber, dass er nirgendwo hinfährt, weil er festgehalten werden kann – normal, alle hatten Angst. Wir haben bei jedem Haus angehalten, in der Hoffnung, dass uns jemand hinfährt. Meine Mutter hat auch die ganze Zeit nach dem Bekannten gefragt, sie kannte den Namen, aber, ob er ein Bekannter oder Verwandter war, weiß ich nicht. Und wir haben ihn gefunden. Es war ein sehr armes Haus, er hatte kein Pferd, gar nichts, nur einen Handwagen mit einer Deichsel. Er war einverstanden, uns nach Jezewo zu bringen. Wir haben alles auf den Wagen aufgeladen uns so sind wir alle zu Fuß losgegangen. Und schon vor dem Abend sind wir zurück in Jezewo bei meinem Cousin gelandet. Und der Arme wusste noch nicht, dass er in zwei Jahren auch nicht mehr da sein würde. Deutsche sind aus Bessarabien gekommen und haben ihn aus dem Hof rausgeschmissen. Sie mussten alles hinterlassen. Wir hatten mindestens das Gepäck, sie mussten ohne alles gehen. [...]

Ausschnitt aus einem Interview mit einer polnischen Zeitzeugin der Zwangsarbeit, das der Freundschaftsverein am 11. Juni 2004 in Tczew führte.


Ein vom Fonds "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" im Rahmen des Förderprogramms "Geschichte und Menschenrechte" gefördertes Projekt.





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