Rosa Luxemburg in einem Brief an die aus Witten stammende Sozialdemokratin Rosi Wolfstein


Am 8. März 1918, drei Tage nach ihrem 47. Geburtstag
schreib Rosa Luxemburg an Rosi Wolfstein:

»Meine liebe Rosi, Sie haben mir mit Ihrer Sendung und
Ihren Zeilen - die pünktlich am 5. eingetroffen sind - große
Freude gemacht. Namentlich aber machen mich die
Kätzchen und das kleine Elefantchen glücklich. Wenn man
bloß mit dem ‚Glück im Winkel‘, das ich nun ins vierte Jahr
genieße, auskommen könnte! Aber die Weltgeschichte
kommt einem ja vor wie ein schlechtes Buch, ein
Kolportageroman, wo grelle Effekte und Bluttaten sich in
roher Übertreibung häufen und wo man keine Menschen,
keine Charaktere, sondern Holzpuppen handeln sieht.
Leider kann man dieses schlechte Buch nicht aus der Hand
schmeißen, man muß sich durchbeissen. Und doch – ‚sie
bewegt sich‘. Ich verzweifle nicht einen Augenblick an der
geschichtlichen Dialektik ... Von Ihren Schicksalen bin ich
fortlaufend, wenn auch kurz, informiert. Ich hoffe Sie stets
eben so forsch, munter und unverzagt, wie ich Sie von
früher her kenne. Eine Nachricht von Ihnen tut immer
wohl. Nochmals vielen Dank und herzlichsten Händedruck!
Ihre R.L.«


zitiert nach: "Sie konnte und wollte nie etwas Halbes tun." Die Sozialistin Rosi Wolfstein-Fröhlich 1914 bis 1924. / Hrsg. von
der Rosi-Wolstein-Gesellschaft e. V., Witten. - Witten, 1995.



Rosi Wolfstein über Rosa Luxemburg, ihre Lehrerin an der SPD Parteischule in Berlin

»Neben ihrer reichen und immer auf unvergleichlicher Höhe
stehenden Tätigkeit als Schriftstellerin und Rednerin war
Rosa Luxemburg auch noch wirkliche Lehrerin, unmittelbar
wirkende Erzieherin zum sozialistischen Denken und
Handeln.
Sie war es an der alten Parteischule, jenem von der ehemaligen
sozialdemokratischen Partei auf Dringen Liebknechts, des alten,
geschaffenen Institut zur Heranbildung geschulterer Kräfte
für die Bewegung.
Rosa Luxemburg unterrichtete hier Nationalökonomie.
(Man ist versucht, – unterrichtete – in Anführungszeichen
zu setzen; so etwas gänzlich anderes, dem trockenen Begriff
vom Unterrichten Entgegengesetztes war es, was Rosa
Luxemburg als Lehrerin gab.) Sie führte die Schüler, Schritt
für Schritt zur eigenen Auseinandersetzung mit den Hauptargumenten
der bürgerlichen Nationalökonomie zwingend,
in die Grundbegriffe des Marxismus ein; sie las dann
gemeinsam mit ihnen den ersten Band des „Kapital” – jede
Schwierigkeit wiederum auf das Eingehendste aufhellend –
und sprach die Probleme des zweiten und dritten Bandes
mit ihnen durch.
Wie sie uns zur eigenen Auseinandersetzung, zur Selbstverständigung
mit den nationalökonomischen Fragen zwang?
Durch Fragen! Durch Fragen und immer erneutes Fragen
und Forschen holte sie aus der Klasse heraus, was nur an
Erkenntnis über das, was es festzustellen galt, in ihr steckte.
Durch Fragen beklopfte sie die Antwort und ließ uns selbst
hören, wo und wie sehr es hohl klang, durch Fragen tastete
sie die Argumente ab und ließ uns selbst sehen, ob sie
schief oder gerade waren, durch Fragen zwang sie über die
Erkenntnis des eigenen Irrtums hin zum eigenen Finden
einer hieb- und stichfesten Lösung.
Und dies tat sie von der ersten Stunde an, wo sie noch
fremdem Menschenmaterial gegenüberstand, wie wir
neuem Wissensgebiet. Von der ersten Stunde an begann sie
uns zu „quälen” – wie sie selbst scherzend sagte –: Was ist
Nationalökonomie? Volkswirtschaftslehre! Gibt es eine
Volkswirtschaft überhaupt? Ja? Worin besteht sie? Und,
nachdem die Erklärung naturgemäß scheiterte: Also, was
gibt es dann? Eine Weltwirtschaft. Ist Nationalökonomie
Weltwirtschaftslehre? Hat es immer eine Weltwirtschaft
gegeben? Was gab es vorher? usw. usw. bis zur letzten
Stunde, wo sie uns entließ mit der eindringlichen Mahnung,
nichts ohne Nachprüfung anzunehmen, alles immer erneut
nachzuprüfen, „mit allen Problemen Fangball spielen, das
ist‘s, was sein muß!” [...]«

Rosi Wolfstein, 1920


zitiert nach: "Sie konnte und wollte nie etwas Halbes tun." Die Sozialistin Rosi Wolfstein-Fröhlich 1914 bis 1924. / Hrsg. von
der Rosi-Wolstein-Gesellschaft e. V., Witten. - Witten, 1995.





zurück