Das Heimweh des Walerjan Wróbel

Materialien und Hintergründe zum Film:

Das Heinweh des Walerjan Wróbel : Ein Sondergerichtsverfahren 1941/42 / aufgezeichnet von C. U. Schmick-Gustavus . - Berlin; Bonn : Dietz Nachf. . - 1986 . - 153 S. : Ill.
ISBN 3-8012-0117-1

Seite 106-108


"Lösungsweg, für alle Beteiligten gangbar?"

Dutzende von Beamten und öffentlich Bediensteten sind es gewesen, die mit
Walerjan Wróbels Verfahren von Amts wegen befaßt waren. Nicht nur die
einfachen Vollzugsgehilfen, auch die verantwortlichen Richter und
Staatsanwälte haben den "Zusammenbruch" überdauert: Ohne Anfechtungen,
reglos, meist nach kurzer Pause schon wieder mit Akten und "Rechtsfällen"
beschäftigt. Kein Richter, kein Staatsanwalt, kein Justizbediensteter ist jemals
für seine Beteiligung an Terrorurteilen zur Rechenschaft gezogen worden. (41)
So war es fast unmöglich, über die Verantwortlichen irgend etwas in Erfahrung
zu bringen. Auch heute, nach nunmehr über vierzig Jahren, da fast alle
Verfahrensbeteiligten gestorben sind, werden dieVerantwortlichen weiträumig
abgeschirmt. Hierbei stellt der 1984 vorgelegte Regierungsentwurf eines
Archivgesetzes das vorläufig letzte Glied in einer langen Kette von staatlichen
Fürsorgemaßnahmen dar, die den Persönlichkeitsschutz von NS-Tätern
perfektionieren. Das Archivgesetz (42), dessen parlamentarische Verabschiedung
nur wegen der vordringlichen "Sicherheitsgesetze" zurückgestellt wurde, sieht
die Anonymisierung von NS-Akten vor: eine symbolische Form der
Aktenvernichtung, eine Art Schlußstrich-Amnestie. (43)

Noch sind derartige Praktiken nicht offiziell abgesegnet; gleichwohl stieß auch
in Bremen die Suche nach den Verantwortlichen des Justizverbrechens auf
unüberwindliche Hindernisse. Nur eine Verkettung verschiedener Zufälle machte
es möglich, am Ende doch noch einiges in Erfahrung zu bringen.

Der erste Versuch, Einsicht in die Personalakten der beteiligten Richter und
Staatsanwälte zu nehmen, scheiterte nach zwölf Monaten vergeblicher
Bemühungen. Diese Akten liegen - anders als die Akten des Sondergerichts -
noch nicht im Bremer Staatsarchiv; sie befinden sich nach wie vor in der Obhut
der Bremer Justizbehörden. Mein Antrag auf Akteneinsicht ruhte zunächst einige
Monate lang beim bremischen Senator für Rechtspflege und Strafvollzug. In
Zwischenbescheiden erhielt ich Mitteilung, daß zunächst noch "Abstimmungen
mit anderen bremischen Behörden erforderlich" seien. Nach wiederholten
telefonischen Mahnungen erfuhr ich dann einige Monate später, gemäß § 19 der
Richtlinien über die Führung von Personalakten, könne ich als "Privatperson"
keinen Anspruch auf Akteneinsicht geltend machen. Der Einwand, es handele
sich um kein "Privatanliegen", sondern um historische Forschung, blieb ebenso
erfolglos, wie das Argument, daß Vertreter der Bremischen Landesregierung doch
anläßlich des 50. Jahrestages der sogenannten Machtergreifung gerade erst
gefordert hatten, auch die Tätigkeit des Bremer Sondergerichts müsse jetzt
"endlich wissenschaftlich aufgearbeitet" werden.

Im Ablehnungsbescheid stand außerdem zu lesen, gemäß § 23 der Richtlinien sei
die Einsicht in Personalakten "nur mit Zustimmung des Bediensteten" möglich.
Bis zum Ablauf von 30 Jahren nach seinem Tod müsse die Einwilligung seiner
Hinterbliebenen vorgelegt werden.

Auf meine telefonische Nachfrage erfuhr ich außerdem, Namen und Anschriften
eventueller Hinterbliebener könnten mir leider auch nicht genannt werden; sie
seien

nämlich als "Teil der Personalakten" anzusehen. Wie ich sie dann ausfindig
machen solle, könne man mir auch nicht sagen. Mit Hilfe alter Adreßbücher habe
ich daraufhin an verschiedene Angehörige von ehemaligen Richtern des Bremer
Sondergerichts geschrieben, mein Vorhaben erläutert und um Einwilligung
gebeten. Als einzige Antwort erhielt ich den Brief eines Rechtsanwalts: Er
vertrete die Interessen der Familie des Verstorbenen, und es sei ihm unerklärlich,
warum ich für meine Forschungsarbeit "ausgerechnet" diese Personalakte
einsehen wolle; außerdem habe die Familie kein Interesse daran, "daß das
Andenken des Verstorbenen durch eine wie auch immer geartete Dokumentation
gestört" werde; er wolle sich daher "beim Herrn Landgerichtspräsidenten dafür
einsetzen, daß mir die Personalakte nicht ausgehändigt werde".

Auch der zweite Versuch, Gegenvorstellungen beim Bremer Justizsenator zu
erheben, um die Ablehnung revidieren zu lassen, scheiterte. Ich wandte mich
zunächst an den Landesbeauftragten für den Datenschutz. Der
Persönlichkeitsschutz müsse doch dort seine Grenzen finden, wo das öffentliche
Interesse an historischer Erforschung der NS-Zeit berührt werde. Erneute Prüfung
wurde zugesagt, aber wiederum geschah wochenlang gar nichts. Nach weiteren
Mahnungen erfuhr ich zunächst, es seien erneute "Abstimmungen mit anderen
bremischen Behörden" erforderlich. Schließlich erhielt ich die telefonische
Einladung zu einer Besprechung im Dienstgebäude des Justizsenators, um die
mit meinem "Antrag verbundenen rechtlichen Fragen zu erörtern".

Als ich zum angegebenen Termin dort eintreffe, erwarten mich zwei Senatsräte.
Es dauert nicht lange und erstaunliche juristische Argumentationsketten ziehen
an mir vorbei. Ich erfahre, daß ich als Vertreter der Universität, einer Körperschaft
des öffentlichen Rechts, "Amtshilfe" begehrt habe, Amtshilfe vom Senator für
Rechtspflege und Strafvollzug. - Doch, doch, ich habe richtig gehört: Ich habe
"Amtshilfe" begehrt, weil ich im Rahmen meines Forschungsvorhabens
Akteneinsicht wünsche, die wiederum.. . Es fällt mir schwer zu folgen, aber der
Beamte ist nicht zu bremsen. Ich müsse außerdem das Volkszählungsurteil des
Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen, denn die Auswirkungen dieses
Urteils in bezug auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht seien überhaupt
noch nicht abzusehen; kurzum, in diesem besonderen Fall sei eine andere
Entscheidung aus Rechtsgründen leider nicht möglich.

Ich erwähne, daß ich im Staatsarchiv inzwischen bereits die
Entnazifizierungsakten der Betroffenen ausgewertet habe, daß es deshalb doch
ein Unding sei, jetzt die Personalakten unter Verschluß halten zu wollen. Ich
frage, ob man bei der Entscheidung auch bedacht habe, wie der
Persönlichkeitsschutz für NS-Täter auf die Verfolgten oder ihre Hinterbliebenen
wirken müsse? Bremen bemühe sich doch um die Aussöhnung mit Polen?

Ich frage schließlich nach den anläßlich des 5O. Jahrestages der
"Machtergreifung" verkündeten Absichten und worin der für dieses Gespräch
angekündigte Versuch bestehen soll, "einen für alle Beteiligten gangbaren
Lösungsweg zu suchen" - ob damit gemeint sei, daß ich meinen Antrag
zurückziehen solle?


Nach weiteren zwei Monaten erhielt ich den Bescheid, der Jusitzsenator
beabsichtige, "die Angelegenheit dem Senat der Freien Hansestadt Bremen zur
Beratung und Beschlußfassung zu unterbreiten". Hierzu kam es dann aber doch
nicht mehr. Datiert unter dem 30. Januar 1985 (dem inzwischen 52. Jahrestag)
wurde mir die endgültige Ablehnung mitgeteilt. Der Senator habe nach
nochmaliger gründlicher Prüfung entschieden, daß der Senat nicht mit der
Angelegenheit befaßt werden solle. Weiter heißt es in dem Schreiben:

Vorweg ist zu bemerken, daß der Senat der Freien
Hansestadt Bremen und mit
ihm auch ich
selbstverständlich im Rahmen der rechtlichen
Möglichkeiten alle
Bemühungen unterstützt, die
bestimmt und geeignet sind, unter
wissenschaftlichen
Gesichtspunkten die Geschehnisse in der Zeit zwischen
dem
30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 zu untersuchen,
Hintergründe aufzuhellen
und bisher unbekannte
Tatsachen und Entwicklungen darzustellen. Eine Grenze

muß diese Unterstützungsbereitschaft selbstverständlich
aber dort erreichen, wo
sie dazu führen würde,
Rechtsvorschriften zu verletzen. So aber liegt es hier.



Ich habe darauf verzichtet, diesen Bescheid verwaltungsgerichtlich nachprüfen zu
lassen, (44) weil ich in den sogenannten "Entnazifizierungs"-Akten bereits genügend
Unterlagen über die Hauptverantwortlichen gefunden hatte.



Anmerkungen:

(41) Vgl. hierzu zusammenfassend: Jörg Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz.
Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation, Reinbek 1983, S. 55.

(42) Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von
Archivgut des Bundes, Bundestagsdrucksache 10/3072.

(43) Vgl. Der Spiegel 44/84, S. 14: "Datenschutz für Nazis?";
Frankfurter Rundschau 29. 12. 1984: "Ein Hebel zur Veränderunghistorischer Dokumente.
Zimmermanns Anonymisierungspläne beim geplanten Archivgesetz stoßen auf viel Skepsis";
Vorwärts 24. 11. 84: "Stop für NS-Forschung, Historiker befürchtenBehinderung
wissenschaftlicher Arbeit. Bundesgesetz soll Archivdatenanonymisieren";
Die Tageszeitung 16. 10. 85:,"Datenschutz als Staatsschutz. Expertenhearing
zum Bundesarchivgesetz vor dem Innenausschuß. Prinzipienkollision
zwischen Datenschutz und Forschungsfreiheit".

(44) Ob dies sehr aussichtsreich gewesen wäre, mag dahinstehen.
Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hat 1982 eine ähnliche Klage
auf Einsicht in die Personalakten eines NS-Generals abgewiesen.
Das beklagte Bundesarchiv hatte seinerzeit argumentiert, "das Gesamtverhalten des
Klägers lasse darauf schließen, daß es ihm darum gehe, General a. D. X persönlich
anzugreifen." (Neue juristische Wochenschrift 1984, S. 1135).
In einem weiteren Fall aus Passau hat das Verwaltungsgericht Regensburg das
Akteneinsichtsrecht an die Auflage geknüpft, daß die Namen der betreffenden
NS-Persönlichkeiten nicht genannt und das Manuskript vor Veröffentlichung der Stadtverwaltung
zur Genehmigung vorgelegt werde, vgl. Der Spiegel 18/1984, vom 30. 4.1984, S. 114. [...]